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Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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Situation bewusst, in der sie sich hier befand. Draußen dieses einzigartige, von Touristen aus aller Welt Tag für Tag besuchte pittoreske Bauwerk auf der Spitze eines dicht bewaldeten Zeugenbergs am Rand der Alb, drinnen eine vom Schicksal schwer heimgesuchte Familie, deren Vater vor wenigen Tagen vielleicht zum Mörder geworden war.
    »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Gerwald.
    Neundorf benötigte einen Moment, zu ihrem Gastgeber zurückzufinden, sah sich mit seinem Angebot konfrontiert.
    »Kaffee vielleicht? Er ist schon fertig in der Thermoskanne. Noch ganz frisch.«
    Sie nickte, sah ihn mit hängenden Schultern aus dem Zimmer verschwinden, hörte ihn nebenan etwas herrichten. Kurz darauf kehrte er mit einem kleinen Tablett mit einer dunkelblauen Thermoskanne, zwei Tassen samt Untertellern, einem Kännchen Milch und einer Schale mit Zucker zurück. Er verteilte alles auf dem Tisch, schob ein paar Papiere zur Seite, die dort lagen, schenkte zuerst ihr, dann sich selbst ein.
    »Bedienen Sie sich bitte«, sagte er, auf die Milch und den Zucker deutend.
    Sie nahm sich ein wenig Milch, bedankte sich und probierte den Kaffee. Er schmeckte kräftig, war ausreichend heiß, verbreitete einen würzigen Duft.
    »Sehr gut«, sagte sie.
    Gerwald nippte an seiner Tasse, schaute abwartend zu ihr hin.
    »Sie sind den ganzen Tag zuhause?«
    Der Mann nickte. »Julia kann nicht allein bleiben. Und sie will nicht länger in einer Klinik dahinvegetieren. Sie können ihr eh nicht helfen.«
    »Sie haben sich von der Arbeit befreien lassen?«
    »Befreien?« Gerwald lachte bitter. »Die wollten nicht mitziehen. Ich musste kündigen.«
    »Und Ihre Frau?«
    »Sie arbeitet halbtags. Es reicht, um über die Runden zu kommen. Julia ist uns wichtiger.«
    »Würden Sie mir erzählen, was passiert ist? Wenn Sie es nicht zu sehr belastet.«
    Heiko Gerwald spielte mit der Tasse, schob sie mit zitternden Fingern auf dem Tisch hin und her. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete er, »Julia wurde vergewaltigt.«
    »Von zwei jungen Männern?«
    »Junge Männer? Sie waren sechzehn und siebzehn. Milchgesichter.«
    »Sie hatte sie gekannt?«
    Gerwald schüttelte den Kopf. »Vielleicht mal von weitem gesehen. Mehr nicht.«
    »Und sie hat immer noch nicht zu einem einigermaßen normalen Leben zurückgefunden?«
    »Sie liegt den ganzen Tag im Bett. Wir haben unser Wohnzimmer umgebaut, damit sie wenigstens ein paar Schritte auf die Terrasse machen kann.« Er deutete auf den Nachbarraum. »Aber ein Kontakt zu Fremden ist völlig ausgeschlossen.«
    Neundorf trank den Rest ihres Kaffees, hatte keinen Blick mehr für die landschaftliche Idylle draußen. Das Grauen hatte diese Familie heimgesucht und es schien, als gebe es keinen Weg, es zu überwinden. »Sie haben es mit verschiedenen Therapien versucht?«
    Der Mann setzte die Tasse ab, die er gerade zu seinem Mund führen wollte, hob seine Hände in die Höhe. »Wir haben nichts ausgelassen. Aber es gibt keine Zaubermeister, die die Vergangenheit mit Hokuspokus aus dem Gedächtnis radieren können.«
    Sie wusste um die Problematik, hatte sich oft genug damit beschäftigt. Viele Frauen schleppten das erlittene Trauma ein halbes, manche ein ganzes Leben mit sich, ohne es jemals verarbeiten zu können.
    Sie sah, wie die Hände des Mannes zitterten, wollte das Gespräch nicht ins Endlose dehnen. Er litt genug, das war nicht zu übersehen. »Bei all dem Leid hat Sie das Urteil des Gerichts dann auch nicht versöhnen können«, sagte sie deshalb. »Obwohl die Täter einen strengen Richter fanden.«
    Gerwald sah auf, musterte ihr Gesicht. Er schien zu überlegen, worauf sie mit ihren Worten zielte. »Die Täter«, sagte er dann, »die Täter.«
    »Die Hintermänner wurden nicht verurteilt«, ergänzte sie.
    Er betrachtete sie stillschweigend, griff dann wieder nach seiner Tasse und nahm sie in beide Hände, als suche er nach einem Gegenstand, der ihm Halt bieten könnte. »Die Jungs stammen aus guten Familien. Sie haben uns besucht, verstehen Sie? Die Eltern, alle vier, sogar ein Onkel, eine Tante und ein älterer Bruder. Sie wollten sich entschuldigen, sind selbst vollkommen fertig. Sie waren mehrfach hier, haben uns um Verzeihung gebeten und ihre Hilfe angeboten. Sie haben alles versucht, es wieder gutzumachen, obwohl das nicht geht, verstehen Sie?«
    Neundorf nickte, ließ den Mann reden.
    »Sie waren bei einem Freund, vertrieben sich den Abend. Der Film hatte sie verhext. Sie schauten ihn zu

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