Schwaben-Rache
restauriert, ihre alten Fachwerkfassaden strahlten in neuem Glanz. Wo früher Bauern ihre Erzeugnisse in Scheunen verwahrten, lockerten jetzt kleine, geschmackvoll begrünte Plätze die Dorfsilhouette auf.
Wirklich ein idyllischer Anblick, dachte Kommissar Braig, als er Lauberg zum ersten Mal vor Augen hatte. Ein Stück heile Welt, scheinbar jedenfalls. Nicht gerade dort gelegen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, aber doch etwas abseits vom großen Weltgeschehen. Und genau hier, in dieser provinziellen Oase, hatten die Täter gleich zweimal zugeschlagen. Wenn es wirklich dieselben waren und nicht irgendwelche Nachahmer, die sich von der Aktion im Stuttgarter Wagenburgtunnel nur hatten inspirieren lassen.
Braig stand am Rand des kleinen Friedhofs und hatte alle Mühe, die Worte des örtlichen Polizeiobermeisters zu verstehen, der ihm den Tatort genau zu erklären versuchte. Der Lärm der im Abstand von weniger als zehn Metern vorbeirasenden Autos machte jede Unterhaltung unmöglich. Personenwagen jagten in beiden Richtungen über die Bundesstraße, Lastwagen qualmten vollbepackt vorbei, Motorräder knatterten hin und her. Wahrlich eine fragwürdige Idylle, dachte Braig.
»Insgesamt also wohl neun bis zehn Stunden hinter diesem Busch«, meinte der Polizeiobermeister.
»Niemand hat ihn gesehen?«
»Wie bitte?«
»Ob ihn niemand bemerkt hat?«
»Bemerkt? Ach so, nein, wieso denn? Dann wäre er früher freigekommen.«
Der Weg vom Dorf zum Friedhof hatte keine Fortsetzung, er wurde also nur bei Tag von Leuten passiert, schließlich war es üblich, den Gottesacker nur bis zum Einbruch der Dämmerung zu besuchen. Und weil er direkt an der Bundesstraße entlangführte, die Tag und Nacht mit diesem unzumutbaren Lärmpegel aufwartete, hielt sich an dieser Stelle auch niemand freiwillig auf.
»Kann ich den anderen Tatort bitte noch sehen?«
Sie folgten der Friedhofsbegrenzung, die parallel zur Straße verlief. Es gab keinen Weg, nur einen schmalen Grassaum von wenigen Metern Breite. Steffen Braig stolperte und erschrak, als er den stark verwesten Leichnam einer Katze vor seinen Schuhen bemerkte. Das völlig verstümmelte Tier war offensichtlich von mehreren Autos überfahren worden.
»Hier«, erklärte der Dorfpolizist, als sie am anderen Ende des Friedhofs angekommen waren, »an diesem Baum.«
Es war ein alter, verwitterter Apfelbaum mit teilweise morschen Ästen. Er trug trotz seines Zustandes noch reichlich Früchte. Neben dem Baum endeten die Hecken und Büsche der Friedhofsumrandung, dahinter folgte freies Feld. Das Gelände, das von der Bundesstraße durchschnitten wurde, fiel langsam ab. Ein einzelner Baum mit dürrem Laubwerk spendete spärlichen Schatten.
Der Lärm wirkte nicht weniger störend als an der anderen Stelle. Dieselbe Qual, dieselbe Tortur, hier stundenlang stehen zu müssen. Absoluter Wahnsinn, dachte Braig.
Er spürte das Brummen in seinem Kopf, das Pochen und Rumoren hinter den Schläfen, ärgerte sich, dass er keine Schmerztabletten mitgenommen hatte. Presslufthämmer drohten seinen Schädel zu durchbohren.
Braig wusste, dass der Lärmpegel der Straße nicht allein schuld an seinen jäh aufbrechenden Schmerzen war. Gestern, nach seinem Besuch bei Frau Ungemach, hatte spät abends das Telefon geläutet, und er war sich im Klaren darüber gewesen, welche Folgen es nach sich ziehen würde, wenn er noch abnehmen und sich auf ein Gespräch einlassen würde. Er hatte dennoch zugegriffen und es auf der Stelle bereut: Das Schimpfen und Jammern seiner Mutter, die heftigen Vorwürfe gegen ihn wollten – wieder einmal – kein Ende nehmen. Sie hatte ihn überfallen mit all ihren Bezichtigungen, Drohungen und Anklagen, mit denen sie ihn dazu bringen wollte, wieder zu ihr zurückzukehren und sein neues, eigenständiges Leben endlich aufzugeben.
Steffen Braig war sie gewohnt, ihre ständig neuen Vorwürfe, ihre von Frust und Verbitterung geprägten Tiraden, seit er vor über einem Jahr den Karrieresprung vom Mannheimer Kommissariat ins Stuttgarter Landeskriminalamt genutzt hatte, sich endlich im Alter von mehr als dreißig Jahren von ihr zu lösen. Das lange Zusammenleben mit seiner immer eifersüchtigeren, nörgelnden Mutter hatte ihn mehr und mehr aufgerieben und ihn nervlich über jedes erträgliche Maß hinaus belastet. Der Wechsel des Arbeitgebers, der ihn zum ersten Mal nicht nur für kurze Zeit, sondern langfristig von ihr getrennt hatte, galt ihm als unverzichtbare Vorbedingung für
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