Schwaben-Rache
»Edouard Manet: die
›Bar in den Folies Bergères‹
« hatte Stöhr beim Betreten des Zimmers erklärt.
Steffen Braig war überrascht über die Bildung des Kollegen. Er wusste nicht, woher Stöhr den Namen des Künstlers und den Titel des Bildes kannte, musste sich selbst gestehen, dass er mit ihm noch nie tiefergehende Worte gewechselt hatte, nie mehr als das, was unbedingt notwendig war. Wenn er sich mit ihm unterhielt, dann nur über dienstliche Inhalte.
Das Bild zeigte ein, wie Braig urteilte, auffallend hübsches, doch melancholisch in die Leere blickendes Mädchen, das hinter einer mit Flaschen bestückten Theke stand. Ihr dunkler, eng zusammengeknüpfter Janker präsentierte über dem Busen einen weiten Ausschnitt, der mit einem kleinen Blumenstrauß geschmückt war. Neben unzähligen, in allen Variationen geformten und gefärbten Flaschen stand eine Glasschüssel mit kleinen Orangen oder Mandarinen vor ihr auf der Theke.
Der Künstler hatte das Bild raffiniert angelegt. Obwohl das Mädchen groß im Mittelpunkt seines Werkes stand, war der gesamte Raum der Bar den Augen der Betrachter preisgegeben. Ein gewaltiger Spiegel im Rücken der melancholischen Schönen öffnete den Blick in das Lokal und auf die große Menge seiner Besucher. Und dann tauchte, ganz rechts auf dem Bild und im ersten Moment überhaupt nicht wahrnehmbar, eine männliche Gestalt deutlich sichtbar auf, eigentlich außerhalb des Gemäldes stehend, vom weitläufigen Spiegel aber festgehalten.
Der große Unbekannte, überlegte Braig, der bei dem Mädchen eine Bestellung orderte oder ein Rendezvous mit ihr verabredete, ein Treffen, das vielleicht fatale Folgen für die junge Schöne nach sich ziehen würde: Der Maler hatte den Täter für alle Zeit fixiert, ihn vor den Augen der Öffentlichkeit entlarvt. »Wenn ich doch nur für die Vorgänge der vergangenen Nächte einen ebenso gewandten Porträtisten zur Verfügung gehabt hätte«, sinnierte Braig, »einen heimlichen Beobachter, der die Täter aus dem Hinterhalt überrascht und sie mir unwiderlegbar vor Augen führt ...«
»Was wollen Sie von mir wissen?«
Es dauerte einige Sekunden, bis Braig zurück zum Gesprächsthema fand. »Wo waren Sie heute Nacht?«
Helmut Ziegenfuß zögerte keine Sekunde. »Hier.«
»Allein?«
»Ja.«
»Keine Zeugen?«
»Ich lebe allein. Meine Frau wohnt mit den Kindern in Stuttgart.«
»Das ist nicht gut für Sie. Wie geht es Ihrem Sohn?«
»Welchem?«, fragte Ziegenfuß. »Ich habe zwei.«
»Sie wissen schon, welchen ich meine.«
»Ich kann es mir denken, obwohl ich Ihren Verdacht unverschämt finde. Ich sagte Ihnen vorhin schon, wenn ich dem Schwein eins überbrate, wird er das so schnell nicht vergessen.«
»Das Verbrechen heute Nacht wird Herr Kessel garantiert nicht schnell vergessen.«
»Reden Sie keinen Unsinn. Was der heute Nacht erlebt hat, macht jeder, der an einer stark befahrenen Straße wohnt, ständig mit. Es wäre sinnvoller, wenn Sie sich anderen, wirklichen Verbrechen zuwenden würden, anstatt sich wegen dieser Schweine aufzuregen.«
»Das müssen Sie uns überlassen, wo und wie wir arbeiten«, konterte Steffen Braig. »Sie behaupten also, Sie hätten mit den Vorgängen heute Nacht nichts zu tun.«
»Vielleicht haben Sie es jetzt endlich kapiert. Aber dass ich dem Kerl bald noch eins überbrate, darauf können Sie sich verlassen. Was drückt den schon der Prozess, weil er meinen Thomas auf dem Gewissen hat? Den Irren für seine Raserei hinter Gitter zu bringen, fällt Ihnen nicht ein. Stattdessen verfolgen Sie Leute, die zwei Schweine an die Straße verschleppt haben. Was für ein gigantisches Verbrechen! Sie sollten meinen Thomas humpeln sehen, während seine Kameraden Fußball spielen, dann kämen Sie auf andere Gedanken. Vielleicht. Wer weiß?«
16. Kapitel
Natürlich kam Ziegenfuß als Täter in Betracht. Seine bewusst zur Schau gestellte Abneigung gegen Kessel und Schmidt sprach ihn nicht von dem Verdacht frei, die vollmundig angekündigte Rache bereits vollzogen zu haben.
Der Bericht, den Braig von der lokalen Polizei über den Hergang des Unfalls erhielt, bestätigte die Aussagen Frau Brüderles. Kessel hatte auf einem Feldweg Ziegenfuß und seinen elfjährigen Sohn Thomas angefahren. Im Krankenhaus wurde bei dem Jungen der Bruch des linken Beins sowie eine Rippenprellung konstatiert, der Vater war mit einem Schock davongekommen. Kessel stand eine Anklage wegen Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit mit daraus
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