Schwaben-Wahn
fahren.
»Du hast Venedig schon vergessen?«, fragte sie noch.
»Ich kann mich kaum noch daran erinnern«, antwortete er, »es muss Monate zurückliegen, dass wir dort waren.«
Er wollte das Handy weglegen und losfahren, als ihm Ann-Katrins vorzeitiger Einsatz in Backnang einfiel. Er gab ihre Nummer ein, musste eine Weile warten, bis er sie in der Leitung hatte. »Wo bist du?«, fragte er.
»Die Demonstration geht langsam zu Ende.«
Er hatte Schwierigkeiten sie zu verstehen, hörte das Stimmengewirr im Hintergrund. Es musste sich um einen gewaltigen Menschenauflauf handeln. »Habt ihr Schwierigkeiten?«, fragte er.
Ann-Katrin beruhigte ihn sofort. »Nein, im Gegenteil. Hier ist alles friedlich. Die Leute sind total traurig.«
»Weshalb?«
Sie reagierte nicht sofort auf seine Frage, wurde offenbar von jemand abgelenkt. Erst mehrere Sekunden später war sie wieder am Apparat. »Ich bin wieder da«, erklärte sie. »Es ging um eine Fackel. Jetzt, wo es langsam dämmrig wird, zünden die Leute ihre Fackeln an. Fast jeder hat eine in der Hand.«
»Wie viele Menschen sind da?«
»Wir schätzen sieben- bis achttausend.«
»Wie bitte? So viele?«
»Sie kämpfen um ihr Krankenhaus. Es soll geschlossen werden.«
»Das Krankenhaus, in dem du ...?«
»Ja«, sagte sie. »Das Krankenhaus, dem ich mein Leben zu verdanken habe. Dir und diesem Krankenhaus.«
Braig wollte nicht daran denken, die schlimmen Stunden und Tage nicht noch einmal durchleben. »Weshalb soll es geschlossen werden? Hat es keinen guten Ruf? Die Ärzte und Schwestern haben sich doch vorbildlich um dich gekümmert.«
»Nicht nur um mich«, erklärte sie. »Mit wem immer ich mich hier unterhalte, jeder lobt das Krankenhaus in den höchsten Tönen. Sie wollen es abreißen, die Klinik in Waiblingen ebenso und zehn Kilometer entfernt in Winnenden ein neues großes Zentralkrankenhaus bauen.«
»Eine dieser großen unmenschlich-sterilen Anlagen, vor der jedem Menschen graut?«
»Niemand versteht die Entscheidung. Die Leute reden von einem undurchsichtigen Schmierengeschäft, um das es in Wirklichkeit gehe.«
»Unternehmen, die von einem Neubau profitieren?«
»Anscheinend. Ich kann aber noch nichts Konkretes dazu sagen.«
»Wie lange musst du noch bleiben?«
»Ich denke, dass ich bald gehen kann. Der Einsatzleiter spricht selbst davon, dass er nicht alle Leute benötigt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Demonstration nicht friedlich bleibt. Vielleicht sollte ich aber noch bleiben. Allein schon aus Dankbarkeit für das Krankenhaus.«
Braig bemerkte auf dem Display seines Handys, dass die Bereitschaft des LKA ihn anzurufen versuchte, wünschte Ann-Katrin alles Gute, beendete das Gespräch. Sekunden später hatte er Weisshaar am Ohr.
»Wir haben eine dringende Mitteilung für dich«, erklärte der Kollege, »es tut mir Leid, aber der Mann verlangt, dass du auf der Stelle zurückrufst.«
»Auf der Stelle?«
»Das ist ein wortwörtliches Zitat.«
»Um wen handelt es sich?« Er runzelte die Stirn, spürte seine Nervosität. Gab es neue Erkenntnisse bezüglich Karl Herzogs Tod?
»Wangbiehler heißt der Mann. Kann ich dir seine Rufnummer geben?«
Braig fuhr sich überrascht über die Stirn, suchte nach seinem Stift. »Senior oder Junior?«
»Keine Ahnung. Der Stimme nach eher der Senior. Auf jeden Fall eine dominante Person. Der Mann scheint es gewohnt, Befehle zu erteilen.«
Braig notierte sich die Nummer, merkte sofort, dass es sich nicht um den Anschluss handelte, unter dem er den Unternehmer am Mittag erreicht hatte. Er bedankte sich bei Weisshaar für die Information, versprach, die Sache schnell zu erledigen. Vielleicht gab es Neuigkeiten über den Aufenthalt Johannes Wangbiehlers zur Tatzeit.
Er tippte die Ziffern, musste nicht lange warten. Die kräftige Stimme des Unternehmers ließ keinen Zweifel, mit wem er verbunden war.
»Endlich! Ich habe lange genug auf Ihren Anruf gewartet,« erklärte der Mann.
Braig spürte einen kalten Schauer über seinen Rücken jagen, versuchte, freundlich zu bleiben. Er musste seine neu entfachten Aggressionen unterdrücken, die anmaßende Haltung seines Gesprächspartners überhören. »Darf ich fragen, um was es geht?«, presste er hervor.
»Mein Sohn Johannes, was sonst?«
Er wusste nicht, ob Wangbiehler sich überhaupt noch bewusst war, welche Arroganz seine Wortwahl zum Ausdruck brachte. Macht verändert jeden Menschen, dessen war Braig sich im Klaren, den einen mehr, den anderen weniger
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