Schwaben-Wut
Frau ihre Worte formulierte.«Alle anderen sind schlecht, nur Sie gehören zu den Guten?«
Ihre Antwort war erst erfolgt, als Tabea Scheich den Raum verlassen hatte. »Und alle außer ihnen gehen verloren. Auch ich.«
Braig konnte die nervenaufreibenden Auseinandersetzungen nur ahnen, die die Ablösung Esther Carls vom Glauben der Eltern zur Folge gehabt haben musste. Durch ihren bitteren Gesichtsausdruck war ihm klar geworden, welche langwierigen Kämpfe um ein selbstbestimmtes Leben die junge Frau durchgestanden hatte. Offensichtlich aber hatte sie es geschafft.
Braig erkannte, dass er sich nicht mit den dürftigen Informationen abspeisen lassen durfte. War die Familie wirklich so ahnungslos, wie sie tat? Hatte niemand gewusst, mit wem sich Hans Greiling treffen wollte, obwohl er sonst angeblich alles so akribisch notierte?
Steffen Braig eilte zu seinem Büro, kam am Raum seiner Kollegin vorbei. Katrin Neundorf saß an ihrem Schreibtisch, das Telefon am Ohr, winkte ihm. Sie trug ein rotes T-Shirt, schwarze Jeans, hatte einen dicken Aktenordner vor sich liegen. Im Januar war sie vierzig geworden, ein Alter, das ihr nach wie vor durchtrainierter Körper nicht vermuten ließ. Braig schätzte die Kollegin aufgrund ihres couragierten, geradlinigen Auftretens und ihres Scharfsinns. Sie hatten in den letzten Jahren mehrere Ermittlungen gemeinsam geführt, viele Untersuchungen erfolgreich durchgezogen, galten inzwischen beide als erfahrene, gewiefte Kriminalbeamte – weit über das LKA hinaus.
Er trat ein und wartete auf das Ende ihres Gesprächs.
»Hallo«, begrüßte sie ihn, legte den Hörer auf, »dich hat es auch erwischt.«
»Ekelhafte Sache«, maulte er, schob einen Papierstapel auf ihrem Schreibtisch zur Seite und setzte sich daneben, »ziemlich brutaler Mord, mitten im Trubel des Straßenfestes in Backnang, aber nirgends ein Motiv. Das Opfer wird erschossen, anschließend sein Schädel zertrümmert. Verrückt, was?«
»Keine Spur?«
»Null. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll. Wie läuft es bei dir?«
Katrin Neundorf zog ein Taschentuch vor, drehte sich zur Seite. »Nicht besser. Der Kerl ist wie vom Erdboden verschwunden. Spurlos. Keine Zeugen, keine Hinweise, nur dumme Anrufe von Idioten, die in jedem zweibeinigen Lebewesen entflohene Straftäter erkennen. Alle Regenbogenblätter hetzen zur Jagd nach dem Killer, die Telefone läuten ununterbrochen, aber außer hirnverbrannten Wichtigtuern nichts Substantielles. Heute haben wir sechsundzwanzig Leute überprüft: Alles für die Katz, völlig daneben. Zum Kotzen! Kein Tip aus der Unterwelt, keine Idee, wer dahintersteckt und wo er sich aufhält. Total beschissen!«
Sie lief zur Kaffeemaschine, schenkte eine Tasse voll, trank ihn schwarz.
»Willst du auch einen?«
Steffen Braig bedankte sich.
»Dabei haben wir alles auf den Kopf gestellt. Die Wohnung seiner Mutter, sämtliche ehemaligen Freunde, sogar die Familien der Knastkumpel wurden gefilzt. Zwei Tage und zwei Nächte jetzt schon. Der Kerl ist verschwunden.«
Braig wusste, welcher Fall ihr so zu schaffen machte. Vor zwei Tagen, am Freitagmittag war es einem jungen, wegen Mordes zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilten Mann gelungen, anlässlich eines Arztbesuches außerhalb der Strafanstalt in Schwäbisch Hall zu entfliehen. Vor drei Jahren, gerade 18 geworden, hatte Andreas Stecher ein junges Mädchen überfallen, sie mehrfach vergewaltigt und grauenvoll getötet. Wenige Monate vorher war er schon einmal durch eine spektakuläre Aktion ins Visier der Öffentlichkeit geraten: Er hatte in seiner Stuttgarter Schule während des Unterrichts seine Mitschüler und eine Lehrerin mit einer Schreckschusswaffe bedroht, dabei zweimal gegen die Decke geschossen. Daraufhin war er aus der Schule ausgeschlossen und zu einer Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt worden.
Soweit Braig sich erinnerte, hatte erst der Hinweis eines Freundes zu seiner Verhaftung wegen der Vergewaltigung und Ermordung des Mädchens geführt. Beim anschließenden Prozess hatten die Richter in Anbetracht der unbeschreiblichen Brutalität der Tat die Höchststrafe für Jugendliche verhängt. Nach nicht einmal drei Jahren Haft war ihm jetzt die Flucht gelungen. Kein Wunder, dass die Öffentlichkeit entsetzt war.
»Habt ihr inzwischen eindeutig geklärt, wie der Kerl entkommen konnte?«, fragte Braig.
Neundorf stellte die Tasse zurück, nickte. »Die Beamten waren nicht so leichtfertig, wie wir zuerst glaubten. Er
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