Schwaben-Wut
hatte Hilfe von außen. Warum die Kollegen es nicht bemerkten, ist inzwischen klar: Zehn Minuten bevor sie die Praxis des Neurologen mitsamt dem Kerl betraten, hatte ein Mann den Arzt überwältigt. Er war als Patient vorstellig geworden, zog plötzlich eine Pistole, hielt den Mediziner und seine Assistentin in Schach. Die übrigen Angestellten und auch die wartenden Patienten merkten von dem Coup überhaupt nichts. Als unsere Kollegen Stecher übergeben und den Arzt begrüßen wollten, wunderten sie sich zwar über seine langsame Reaktion, kamen aber nicht auf die Ursache.
Der Erpresser stand hinter einer dünnen Schiebewand, die Pistole auf die Assistentin gerichtet. Kaum hatten die Beamten den Raum verlassen, als die beiden auch schon türmten. Durchs Fenster. Sie hörten nur noch das Aufheulen eines Motors draußen, als der Arzt und seine Assistentin endlich um Hilfe zu schreien begannen. Die waren verschwunden, spurlos.«
»Keine Verfolgung, Straßensperren oder so?«
Neundorf hustete kräftig. »Das Auto war weg, als sie reagierten. Und bis jemand die Straßen kontrollieren konnte ... Es war in Schwäbisch Hall, nicht hier bei uns. Weißt du, wie viel Polizeikräfte denen dort draußen zur Verfügung stehen?«
Braig verstand, was sie meinte, winkte ab.
»Das Fahrzeug haben wir gefunden und identifiziert. Gestohlen, klar. Zwei Stunden vor der Tat etwa, auf einem Bauernhof nicht weit außerhalb der Stadt. Von den Besitzern konnte sich niemand erinnern, wie es weggekommen war. Die befanden sich auf dem Feld, bekamen nichts mit.«
»Keine Fingerabdrücke?«
»Doch. Die von Stecher. Sonst aber keine. Wir wissen nicht mal, wie viel Leute beteiligt waren. Ob außer dem Kidnapper vielleicht noch einer im Auto wartete. Obwohl es laut Spurensicherung unwahrscheinlich ist. Will aber nicht viel heißen. Der Innenraum des Wagens war ziemlich verschmutzt. Die Landwirte benutzen ihn oft, um Dünger, Pflanzenschutzmittel und ähnliches zu transportieren. Die Kollegen fanden alle Gifte dieser Welt. Nur keine entscheidenden Hinweise.«
»Wo habt ihr das Auto entdeckt?«
»In Öhringen, nicht weit vom Bahnhof. Keine 20 Kilometer von Hall entfernt. Möglicherweise stiegen sie dort um auf die Bahn. Wir wissen es nicht, haben nicht einen einzigen Zeugen. Niemand dort kann sich an zwei oder drei auffällige Männer erinnern. Nicht ein zufälliger Spaziergänger, kein Liebespaar in der Nähe, niemand, der seinen Hund ausführte. Und auf dem Bahnhof? Nichts. Wir befragten die Bediensteten, die Zugbegleiter der Mittagszüge, ließen einen Aufruf durch Presse und Rundfunk gehen – nichts. Die sind wie vom Erdboden verschwunden.«
»Vielleicht haben sie sich gleich nach der Fahrt mit dem Fluchtwagen getrennt. Um nicht so aufzufallen.«
»Haben wir alles bedacht. Das Foto Stechers, – ganz Öhringen und Umgebung wurden plakatiert – alles umsonst. Wahrscheinlich hatte sein Befreier neue Kleidung für ihn dabei, vielleicht sogar eine Perücke, wer weiß. Die Sache scheint lange vorbereitet zu sein, da bleibt Spielraum für solche Ideen. Auf jeden Fall fehlt uns jeder Ansatz einer Spur.«
»Vielleicht ist der aufgegebene Fluchtwagen am Bahnhof eine bewusste Irreführung. Unterwegs, irgendwo, ist ein zweites Auto geparkt, sie stoppen dort, Stecher steigt aus, folgt seinem Befreier mit dem neuen Fahrzeug bis zum Bahnhof, der lässt es stehen, steigt zu Stecher um – und ihr konzentriert euch auf völlig falsche Fluchtwege.«
Neundorf nickte, deutete auf ihre Akten. »Haben wir alles durchgecheckt. Unsere Techniker haben die Umgebung des Fluchtwagens die halbe Nacht auf den Kopf gestellt. Leider war der Boden zu trocken, um Fußspuren zu verifizieren. Abdrücke verschiedener Reifen gibt es zuhauf. Das einzige Resultat ihrer Arbeit: Alles ist möglich.«
»Bleibt dir wohl nur, dich auf seine möglichen Fluchtziele zu konzentrieren.«
»Alles veranlasst. Generelle Überprüfung aller Kontaktpersonen. Die Entscheidenden werden Tag und Nacht observiert.«
»Wo leben seine Eltern?«
»Mutter. In Waiblingen. Ameisenbühl, gleich unterhalb vom Bahnhof. Wir haben ständig zwei Leute dort. Da darf nichts anbrennen.«
»Du warst schon dort?«
»Zweimal. Das übliche Geschwätz. Ihr Junge sei nicht so, ganz im Gegenteil. Alles falsche Beschuldigungen. Sie sei mit ihrem Sohn immer gut zurechtgekommen. Ein Engel in Person. Vielleicht kannst du von einer Mutter nichts anderes erwarten.«
»Wo ist der Vater? Geschieden?«
Neundorf
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