Schwaben-Wut
mittellose, auf äußerste Sparsamkeit bedachte Familie jedoch eine akzeptable Übergangslösung. Er hatte sich um dessen Sozialbeiträge und Versicherungen gekümmert, den Neuzugezogenen den Großteil der Behördengänge abgenommen und die günstigsten Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder ermittelt.
Fächles und seiner Frau Verhältnis zu den Karics war so eng, dass sie heute schon alle Vorbereitungen für den 17. Geburtstag Olivers am morgigen Donnerstag getroffen hatten: Einen mit Girlanden und bunten Lampen geschmückten Innenhof ihres Anwesens im Herzen Fellbachs, Grillwürste mit Reis und mehreren Salaten, dazu Getränke und Eiscremes verschiedener Sorten für den Nachmittag, für den der junge Mann seine Klassenkameraden nach Fellbach eingeladen hatte. Eugen und Hildegard Fächle freuten sich auf das Fest genauso sehr wie Oliver Karic, der heute den letzten Tag seines 17. Lebensjahres erlebte.
19. Kapitel
Bis jetzt hatte alles geklappt. Die Organisation der Pistole, das Auskundschaften ihrer Gewohnheiten, die Vorbereitung seiner Attacken. Und die Ausführung. Die ganz besonders.
Niemand konnte mit ihm rechnen, denn niemand hatte den Täter aus unmittelbarer Nähe gesehen.
Stolz blickte er auf die Zeitungsberichte, die vor ihm lagen, las wieder und wieder die Spekulationen über Beweggründe, Fluchtwege, potentielle Aufenthaltsorte des Täters. Irgendwie war es ein Spiel, fernab jeder Realität, einer spannenden Fernsehserie gleich, die Millionen von Zuschauern täglich verfolgten, um atemlos dem Ausgang des Geschehens entgegenzufiebern.
Nur einer kannte die Fortsetzung, nur einer wusste, wer als nächstes Opfer in den Schlagzeilen auftauchen würde.
Nicht die klugen Damen und Herren Psychologen hinter ihren übervollen Schreibtischen, nicht die vor Neugier geifernden Journalisten, nicht die mit zerkniffenen Mienen nach dem Urheber fahndenden Kriminalbeamten hatten Ahnung von dem, was sich noch ereignen würde, nur er.
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl ergriff ihn, eine Woge der Lebenslust, pure Freude, reines Vergnügen, aber auch Macht und bisher unbekannte Kraft. Es war soweit, endlich. Er war nicht länger ihr Opfer, der Spielball ihrer Aggressionen – er war derjenige, der ganz allein bestimmte, wo es lang ging. Alle tanzten jetzt nach seiner Pfeife. Nach vielen Jahren der Unterwerfung, unzähligen Momenten der Erniedrigung war jetzt endlich die Zeit angebrochen, in der nicht mehr sie, sondern er darüber bestimmte, was geschah und wie die Sache weiterlief.
Er dachte zurück, erinnerte sich an all das Elend, das er hatte erdulden müssen, die Ängste, die ihn geplagt, die Schmerzen, die ihm zugesetzt hatten. Beinahe wäre es ihnen gelungen, ihn zu vernichten, ihn mit all ihren Aggressionen buchstäblich zu zerstören.
Beinahe. Bis die Wut ihn packte und von Tag zu Tag immer mächtiger wurde und schließlich nur noch wuchs und wuchs und wuchs ...
Er ließ die Zeitungen ausgebreitet auf dem Tisch liegen, lief zu seiner Jacke, griff in beide Taschen. Das kalte Metall lag glühend in seinen Händen. Er spürte die Umrisse der Pistole und des kleinen unscheinbaren Hammers, wusste, dass er gerüstet war für den nächsten Akt. Die Wut, sie hatte ihn wieder. Morgen am Donnerstag würde ihm der nächste zum Opfer fallen.
Es war nur noch eine Frage von wenigen Stunden.
20. Kapitel
Bernhard Söhnles Dienst begann an diesem Donnerstag bereits um drei Uhr in der Frühe. Als Beamter des Landes, im Rang des Kriminalmeisters, war er einer Einsatzgruppe von Polizeibeamten zugewiesen worden, die unliebsam gewordene Ausländer am frühen Morgen überraschen und abschieben sollten.
Söhnle hatte kein Interesse an dieser Spezialaufgabe bekundet, seine Verpflichtung war gegen seinen ausdrücklichen Willen erfolgt. Er fühlte sich ohnehin nicht gut, seine Gesundheit bereitete ihm in den letzten Monaten immer häufiger Schwierigkeiten. Seit Tagen spürte er ein heftiges Stechen beim Atmen, dazu fühlte er sich seit langem abgekämpft, fiebrig und matt. Es half alles nichts, er musste zum Arzt, sich gründlich untersuchen lassen – eine Angelegenheit, die er bisher weit von sich geschoben hatte. Er musste seiner Gesundheit, ob er es wollte oder nicht, mehr Beachtung schenken.
Seit seiner Scheidung vor drei Jahren lebte er allein, gefrustet von einem weitgehend freudlosen Privatleben so wie den Anforderungen des Berufes, den ständigen Wechselschichten, dem Umgang mit den Gescheiterten dieser
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