Schwaben-Wut
Nacht, ließen ihr gesamtes Hab und Gut zurück. Dicke Pullover und Jacken auf dem Leib, stolperten sie durch die Wälder der Umgebung, erklommen hohe Berge, um dem vom Feind bereits umzingelten Gebiet zu entkommen.
Margita Karic dachte nur mit Grauen an die langen Nächte ihrer Flucht zurück. Tagsüber versteckten sie sich in dunklem Gehölz, das Rattern von Gewehren und die Detonationen von Bomben oft in unmittelbarer Nähe, voller Angst vor unverhofften Patrouillen der serbischen Mörderbanden. Nachts machten sie sich auf, die völlig verstörten Kinder an den Händen oder auf dem Rücken, den Schutz der Bäume zu verlassen und über Felder, Wiesen und unwegsames Gelände von der Front wegzukommen. Wie viele Wochen sie auf diese Weise umhergeirrt, Marodeuren oft nur knapp entgangen, brennende Dörfer und Einzelgehöfte in der Ferne erspäht, sich von Früchten und Kräutern der Wälder ernährt hatten, um schließlich unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte in einem der internationalen Auffanglager zu landen, war ihnen erst beim Anblick der Kalender dort klar geworden: Sechs Wochen, zweiundvierzig Tage. Vier abgemagerte, ausgezehrte, kranke Gestalten hatten sich in die Obhut der westlichen Helfer begeben, Mirela von Darmentzündungen, Oliver von traumatischen Schlafstörungen geplagt. Nach fünf Monaten in einem unbeheizten, von annähernd dreihundert Flüchtlingen bewohnten Zelt mitten in einer inzwischen winterlich kalten Umgebung waren sie dankbar auf das Angebot der Westlichen Staatengemeinschaft eingegangen, in einem der Länder dort für einige Jahre Zuflucht zu finden. Deutschland hatte sie aufgenommen, weil entfernte Verwandte seit Jahren dort lebten und Margita und Dragan Karic mussten sich an die Tatsache gewöhnen, dass ihre beiden Kinder die Sprache der neuen Heimat bald besser beherrschten als sie, die Eltern.
Hatten sie heute, nach fast acht Jahren Aufenthalt in Stuttgart, immer noch Schwierigkeiten, sich deutsch zu verständigen, war Mirelas und Olivers Sprache nicht mehr der geringste Akzent anzumerken. Beide unterhielten sich mit ihren deutschen Freunden im reinsten Stuttgarter Schwäbisch, waren von anderen jungen Leuten weder im Aussehen noch im Sprechen zu unterscheiden. Die Lehrer hatten beiden hervorragende Leistungen bescheinigt, Mirelas Zeugnisse wiesen seit Jahren Notenschnitte zwischen 1,2 und 1,4 auf – Erfolge, die nur wenigen deutschen Mitschülern gelangen. Jetzt in der 11. Klasse des Gymnasiums in Bad Cannstatt war sie von den Klassenkameraden zur Klassensprecherin gewählt worden.
Olivers Noten lagen in vergleichbaren Bereichen. Gerade noch vier Wochen und er hatte mit dem Abschluss der 10. Realschulklasse eine hervorragende Mittlere Reife-Prüfung in der Tasche.
»Ich zeige den Bescheid morgen früh Eugen«, erklärte Dragan Karic, »er wird sich freuen.«
Sein Chef, der Besitzer eines alteingesessenen Fellbacher Handwerksbetriebes, hatte sich mehrfach bei der Ausländerbehörde und beim Innenministerium in Stuttgart für seinen tüchtigen Mitarbeiter eingesetzt, unzählige Male um eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gebeten. Auf Dragan Karic verzichten zu müssen, bedeutete das Ende seines Unternehmens. Allein sah er sich nicht imstande, die Aufträge zu bewältigen, einen weiteren verlässlichen Mitarbeiter zu akzeptablen Bedingungen aufzutreiben, war ihm bisher trotz aller Versuche nicht gelungen.
Das Angebot an tüchtigen Facharbeitern war äußerst bescheiden, wie Eugen Fächle nach mehreren Vermittlungsversuchen des Arbeitsamtes und privaten Stellenanzeigen erfahren hatte. Dazu schwindelte ihm vor den Lohnforderungen, denen er sich bei gut ausgebildeten Interessenten ausgesetzt sah. Sollte die Verlängerung der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis seines bosnischen Angestellten keine gütliche Lösung finden, würde er seinen Betrieb aufgeben und beim Arbeitsamt um eine Stelle in einer größeren Firma nachsuchen müssen – darüber war sich Eugen Fächle klar. Keine wünschenswerte, wohl aber die einzig machbare Perspektive für einen 54-jährigen Kleinunternehmer.
Kein Wunder, dass sich Fächle mitsamt seiner Frau für den Aufenthalt und das Wohlergehen der ganzen Familie Karic in den letzten Jahren so engagiert hatte. Die preiswerte Drei-Zimmer-Wohnung am Rand Bad Cannstatts war ihm von Bekannten für seinen Angestellten überlassen worden, aufgrund des Lärms der stark befahrenen Neckartalstraße zwar nur bedingt zu empfehlen, für eine weitgehend
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