Schwaben-Wut
Umständen eine bildhübsche junge Frau war.
Söhnle breitete schwerfällig die Arme aus, fing sie auf.
»Was soll diese Unverschämtheit?« protestierte sie in reinem Hochdeutsch. »Schämen Sie sich nicht, Ihre Mitbürger einfach bei Nacht zu überfallen?«
Der Gruppenleiter sah keinen Anlass, sich zu rechtfertigen. »Seien Sie bitte vernünftig. Ziehen Sie sich sofort an. Wir bringen Sie zum Flughafen.«
Die junge Frau wand sich aus Söhnles Armen, baute sich direkt vor dem Vorgesetzten auf. »Sie täuschen sich. Niemand von uns geht zum Flughafen. Wir leben hier, genau wie Sie. Meine Eltern arbeiten, wir gehen zur Schule. Entschuldigen Sie sich bei meinem Vater und verlassen Sie sofort unsere Wohnung.«
Der Polizeibeamte konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Ich, ich ...«, er stotterte, rang um Fassung. »Wir haben keine Zeit«, schimpfte er dann, »ziehen Sie sich bitte schnell an.«
»So können Sie nicht mit uns umgehen. Sie haben kein Recht dazu.« Mirela Karic wischte sich den Schlaf aus dem Gesicht, zeigte auf ihre Kleidung. »Und Sie besitzen wirklich nicht einmal den Rest eines Schamgefühls, uns in unserer eigenen Wohnung so rücksichtslos zu überfallen.«
Das Gesicht des Gruppenführers lief rot an, er wurde sichtbar unsicher, trat einen halben Schritt zurück. »Junge Frau, es tut mir leid, aber wir haben unsere Vorschriften und die besagen ...«
»Das ist falsch«, erklärte Mirela Karic couragiert, »Deutschland ist ein demokratisches Land, kein Polizeistaat. Wir leben seit acht Jahren hier.«
Der Beamte wedelte mit einem Blatt in der Luft, verzog sein Gesicht. »Hier«, erklärte er verlegen, »unsere Anweisung: Familie Karic, vier Personen, Treffpunkt Flughafen. Um sieben Uhr startet die Maschine nach Sarajevo.«
»Bitte«, Dragan Karic hatte sich wieder gefangen, »darf ich lesen?« Er zeigte auf das Papier.
Der Polizist streckte seine Hand vor, ließ den Mann auf den Text sehen. Mirela Karic stellte sich dazu.
»Das ist ein Irrtum«, sagte sie dann, »Ihre Vorgesetzten täuschen sich. Wir haben eine Aufenthaltsberechtigung von der zuständigen Ausländerbehörde bis zum 30. September. Das sind noch genau drei Monate.«
»Unmöglich«, erwiderte der Beamte, »dieses Schreiben ist autorisiert. Glauben Sie denn, wir ziehen gerade so los und überfallen Unschuldige?«
»Ich glaube das nicht nur, ich erlebe es gerade«, antwortete die junge Frau forsch. Sie umarmte wortlos ihren Vater, drückte sich an ihn, strich ihm über seine Wangen, murmelte ihm dann zärtlich etwas ins Ohr. »Meine Eltern wurden lange genug von der serbischen Polizei tyrannisiert. Sie sollten es denen nicht gleich tun. Mein Vater holt das Papier mit der Aufenthaltsberechtigung. Und wenn Sie dann keine Ruhe geben, rufe ich einen Rechtsanwalt an. Der Vater einer Klassenkameradin hat eine eigene Kanzlei. Deutschland ist keine Diktatur.«
Der Gruppenführer wartete, bis Dragan Karic zurückkehrte, studierte das Schreiben, zuckte dann mit der Schulter. »Verstehe ich nicht«, meinte er, reichte es einem Kollegen. »Was sagst du?«
Der Angesprochene überflog den Text, war ebenso ratlos.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Bernhard Söhnle.
Sein Vorgesetzter sah ihn überrascht an, gab ihm mit einem Kopfnicken die Erlaubnis.
Söhnle las das Schreiben, sah, dass es sich um eine offizielle Anordnung der Ausländerbehörde handelte, die mit diesen Zeilen die Aufenthaltsberechtigung für die gesamte vierköpfige Familie Karic definitiv bis zum 30. September des Jahres verlängerte.
»Das ist sehr wichtig für uns«, sagte Mirela Karic, »ich habe in knapp vier Wochen mein Abschlusszeugnis der elften Klasse und mein Bruder seine Mittlere Reife. Ohne diese Bescheide müssten wir in Bosnien die Klassen nochmals wiederholen. Deshalb sind wir sehr froh ... Oh, Bruderherz, du hast heute Geburtstag. Mitternacht ist vorbei!« Sie stürzte von Söhnle weg auf ihren Bruder zu, umarmte ihn und lachte. »Beinahe hätte ich es vergessen. Vor lauter Schrecken. Heute mittag feiern wir. Der Chef meines Vaters hat schon alles gerichtet.«
Sie drückte ihrem Bruder die Hand, gratulierte, wartete, dass ihre Eltern sich anschlossen. Zögernd traten die Mutter, dann der Vater auf Oliver zu, umarmten ihn, drückten ihn fest an sich.
Söhnle steckte seine Waffe weg, schob sich an seinem Vorgesetzten vorbei, gab dem jungen Mann die Hand. »Herzlichen Glückwunsch und alles Gute«, sagte er, wandte sich dann an die Eltern und die
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