Schwaben-Wut
verdienen – und er hatte nicht lange überlegt und ja gesagt zu dem scheinbar völlig unproblematischen Spiel. Vielleicht war ihm erst im Verlauf dieser Reisetätigkeit oder in gelegentlichem Kontakt mit verzweifelten Mädchen oder dubiosen Hintermännern aufgegangen, worauf er sich eingelassen hatte – da aber war es bereits zu spät gewesen, einfach wieder auszusteigen und sich billig davonzumachen. Oder er hatte sich schon zu sehr an die simple Methode gewöhnt, so einfach gutes Geld zu verdienen.
Auf jeden Fall gehörte er nicht zum härteren Kaliber, war er nicht bereit, über Leichen zu gehen. Noch ein paar handfeste Drohungen, einige Hinweise darauf, was er den Mädchen mit seinen Aktionen angetan hatte und welche Folgen sich für seine private wie berufliche Zukunft ergeben würden, sollte er nicht auf ihre Vorschläge eingehen – und Stern war weich gekocht wie ein Frühstücksei. Die Reaktionen des Mannes, seine Körpersprache zeigten deutlich, wie es mit ihm stand. Noch ein paar Stunden heute Abend in Braigs und Neundorfs Obhut und Stern würde ihnen den Weg dorthin weisen, wo die skrupellosen Menschenhändler ihr neues Refugium errichtet hatten. Mit viel Glück würde es ihnen gelingen, in die höheren Gefilde der Drahtzieher vorzustoßen, einen oder mehrere der Hintermänner dingfest zu machen.
Neundorf sah die Bilder der jungen Frauen in der Hütte vor sich, die Szene, in der das Mädchen gegen seinen Willen in die dunkle Limousine gestoßen wurde, spürte die Wut, die in ihr hochkochte. Sollte es einen Moment geben, in dem sie dem Organisator der Mädchenschiebereien allein gegenüberstand, würde er für seine Taten büßen. Sie wusste genau, wie.
31. Kapitel
Josef Groß unterrichtete Religion und Deutsch am Gymnasium in Backnang, welches Andreas Stecher bis zum Ende der zehnten Klasse besucht hatte. Er war Mitte vierzig, hatte wuschelige dunkle Haare, einen sommerlich gestutzten Vollbart, trug eine Brille mit schmalem, dunklem Gestell. Groß begrüßte Braig in seinem Haus in einer ruhigen Wohnlage Backnangs.
»Sie interessieren sich für Andreas«, sagte er, nachdem er Braig in sein Wohnzimmer geführt und mit Kaffee, Milch und einem Stück selbst gebackenen Johannisbeerkuchen versorgt hatte. Ein kleiner Junge mit dunklem Teint, unverkennbar das Ebenbild seines Vaters, spielte mit Holzbausteinen auf dem Teppich.
»Sie haben noch Kontakt zu ihm?«
»Bis vor wenigen Wochen, ja«, antwortete Groß, »aber in Anbetracht der Umstände ...« Er beendete den Satz nicht, trank von seinem Kaffee.
»Wo könnte er sich aufhalten?«
Groß stellte seine Tasse zurück, machte sich an seiner Brille zu schaffen. »Das ist eine gute Frage. Sie sollten eigentlich eher die Antwort kennen als ich, oder?«
Braig nickte. »Alles könnte einfacher sein, wenn dem so wäre. Aber leider ...« Er zeigte seine Handflächen, seine Unwissenheit demonstrierend.
Der Junge neben ihm auf dem Teppich spielte ruhig mit seinen Bausteinen.
»Vor drei Wochen war ich zum letzten Mal bei ihm.« Groß putzte seine Brille mit einem hellen Tuch, hauchte die Gläser an, wischte sie vorsichtig ab. »Er freute sich wie immer, wenn ich auf tauchte.«
»Haben Sie zu allen Schülern so enge Kontakte?«
»Das geht leider nicht. Ich unterrichte in jedem Schuljahr zwölf verschiedene Klassen. Insgesamt etwa 350 junge Leute. Manchmal wechseln die Klassen schon nach einem Jahr. Engere Kontakte bleiben da die Ausnahme. Leider.«
»Woher resultierte Ihre Beziehung zu Stecher? Seiner Verurteilung wegen?«
»Die Kranken bedürfen des Arztes eher als die Gesunden? Das ist richtig. Aber wir standen schon vor seinen Straftaten in enger Verbindung. Er war mehrere Jahre mein Schüler, zeigte großes Interesse am Unterricht und präsentierte selbst in der schwierigen Zeit mit 14, 15 ein auffallend positives Sozialverhalten.«
»Was soll ich darunter verstehen?«
»Andreas war die gute Seele der jeweiligen Klasse. Er wirkte ausgleichend auf aggressive Mitschüler, integrierte Außenseiter in den Klassenverband, schlichtete Konflikte. Nicht plakativ nach außen hin, sondern unauffällig, ganz im Stillen. Kein Selbstdarsteller, keine Posen fürs öffentliche Rampenlicht, im Gegenteil. Solche Leute geben einer Gemeinschaft Zusammenhalt. Leider gibt es nicht viele davon. Sie sind für jeden Lehrer ein Glücksfall. Ein einziger Schüler mit dieser Einstellung und das Klima einer Klasse, die Atmosphäre des Unterrichts, atmen mehr Lebensfreude als
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