Schwaben-Wut
dies ein Lehrer selbst bewirken könnte. – Klingt unglaublich, oder?«
Braig hielt den Löffel mit einem Stück Kuchen in der Hand, schaute sein Gegenüber mit verwunderter Miene an. »Ich kann es nicht fassen«, sagte er, zuckte mit der Schulter, »irgendwie kommt es mir vor, als redeten wir von verschiedenen Personen.«
Josef Groß nickte. Er fuhr seinem Sohn, der ihm einen gelben Bauklotz gebracht hatte, zärtlich über die Haare, richtete seinen Blick auf Braig.
»Ich kann Sie verstehen. Mir ging es ähnlich. Als ich zum ersten Mal davon hörte, Andreas sei dabei erwischt worden, als er einen kleinen Hund, einen Dackel, wenn ich richtig erinnere, mit einem Holzknüppel regelrecht totgeschlagen habe, wollte ich es auch nicht glauben. Ich wusste, dass das nicht Andreas gewesen sein konnte. Aber dann ereigneten sich die nächsten Vorfälle und es wurde immer klarer, dass er es war. Sie kennen seine Straftaten, nehme ich an, wissen, wie er sich in diesen Gewaltrausch steigerte. Leider verlor ich ihn in dieser Zeit aus den Augen, weil seine Mutter mit ihm nach Stuttgart-Heslach zog.«
»Sie sehen in diesem Umzug die Ursache für seine schlimme Entwicklung?«
Groß schüttelte den Kopf. »Nicht in dem Umzug an sich. Aber dieser Wohnortwechsel schuf leider die optimalen Voraussetzungen dafür, dass er den Einflüssen, denen er in dieser Zeit ausgesetzt war, ohne nennenswerte Gegenwehr erlag.«
Braig trank von dem Kaffee, ließ sich von seinem Gastgeber noch ein Stück Kuchen reichen.
»Von welchen Einflüssen sprechen Sie?«, fragte er dann.
»Eine Fernsehserie, die Andreas Verhaltensänderung verursachte. Seine Mutter wollte mit dem Umzug das Beste für ihren Sohn. Sie erzog ihn allein, ernährte sich und den Jungen von ihrer Arbeit, ich weiß nicht, inwieweit Sie darüber informiert sind.«
Braig nickte bestätigend, aß weiter Kuchen, ohne es zu wissen.
»Dadurch, dass sie wieder gezwungen war, im Krankenhaus Nachtschichten zu übernehmen, musste sie Andreas von abends bis morgens allein lassen. Um die Zeit ihrer Abwesenheit wenigstens durch eine kürzere Fahrt an die Arbeitsstelle zu reduzieren, zog sie mit ihm nach Heslach. Der Umzug traf Andreas hart: Er wurde von seiner bisherigen Umgebung, den Freunden, seinen Schulkameraden getrennt, hatte große Schwierigkeiten, in seiner neuen Klasse Fuß zu fassen, sah sich bald völlig isoliert und entwurzelt.
Und genau in dieser Situation hockte er abends, wenn seine Mutter arbeitete, allein vor der Glotze und stieß da auf die Lösung all seiner Probleme: Bist du allein, verlassen und dem Spott der anderen ausgesetzt, dann hast du nur eine Chance, dich aus diesem Elend zu befreien: Zahle ihnen zurück, was sie dir angetan haben; nimm dir, was du brauchst; denke an dich und deine Vorteile; sei ein Mann, zeige ihnen, was in dir steckt; nimm keinerlei Rücksicht auf irgendjemanden. Nur wer rücksichtslos durchgreift, kommt zum Ziel; gehe über Leichen und zeige das deutlich und schon bist du der von der breiten Masse anerkannte und bejubelte King.
Das war kein theoretisches Geschwätz wie so vieles, was in der Schule besprochen wurde, nein, die Wahrheit dieser Aussagen wurde ihm fast täglich plastisch vor Augen geführt. Andreas erlebte Abend für Abend, wie der Serienheld sich mit genau diesem Verhalten Respekt verschafft, dabei buchstäblich über Leichen geht, sich an der Gewalt in immer neuen Formen berauscht, all seine sadistisch-rachsüchtigen Gedanken auslebt, seinen Gegnern alles doppelt und dreifach heimzahlt, was er von ihnen erdulden musste. Der große Kämpfer nimmt sich, was er braucht, sei es ein Gegenstand, ein Tier oder eine Frau, alle sind seine Objekte, die allein seinem Willen unterworfen sind. Er entscheidet, was mit ihnen geschieht. Dafür wird er bejubelt, angebetet, verehrt.«
Groß strich seinem Sohn über die Haare, nahm seine Brille ab. »Dieser Lebensentwurf wurde für Andreas innerhalb weniger Wochen zu seinem Vorbild. Er imitierte die Methode, verschaffte sich dadurch Aufmerksamkeit, Anerkennung, Respekt und eine ganze Meute begeisterter Anhänger. Zuerst im kleineren Kreis, dann, als ihm das nicht mehr genug war, durch seine erste wirklich spektakuläre Aktion, das Kidnapping seiner Lehrerin, auch in der Öffentlichkeit. Plötzlich starrten alle auf ihn, war er in jeder Zeitung. Boulevardmagazine und Illustrierte rissen sich um ihn. Fotos klickten, Kameras liefen. Es funktionierte, was ihm da in der Glotze vorgespielt wurde, ohne
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