Schwaben-Wut
jeden Zweifel. Man musste nur rücksichtslos und ohne Hemmungen auftreten und schon sah das Leben ganz anders aus. Gewalt war, so entdeckte er Tag für Tag aufs Neue, die reale Möglichkeit, seine Ziele zu verwirklichen. Und wie!«
Steffen Braig lauschte mit steigendem Interesse. »Was Sie erzählen, klingt überzeugend. Fast bin ich geneigt, Ihnen zu glauben. Wahrscheinlich liegt das aber daran, dass Sie ein guter Lehrer und Vermittler von Informationen sind.«
Groß lächelte, schüttelte den Kopf. Er griff nach seinem Sohn, kraulte ihm die Haare. »Was ich Ihnen berichtet habe, stammt nicht von mir. Keine gutmütigen Interpretationsversuche einer schlimmen Handlung, wenn Sie das andeuten wollen. Andreas hat es mir selbst so erzählt.«
»Er selbst?«
»Später, im Gefängnis, als er endlich bereit war, einzusehen und darüber nachzudenken, was er verbrochen hatte. Es waren harte Jahre. Wir arbeiteten seine schlimme Zeit in langen Gesprächen ab. Es kostete viel Mühe, bis er den Willen aufbrachte, zu dem zu stehen, was er durch seine Taten geworden war: Ein übergeschnappter, von der Sucht nach Aufmerksamkeit getriebener Kidnapper. Ein plumper rücksichtsloser Egoist. Ein sadistischer Tierquäler. Ein eitler Möchtegern-Rambo. Ein primitiver Muskelprotz. Ein brutaler Vergewaltiger. Ein unmenschlicher Mörder. Schlicht und einfach: Eine Bestie, ein Monster, ein dreckiger Krimineller. Er schenkte sich nichts.«
»So sprachen Sie mit ihm im Gefängnis?«
Josef Groß aß ein Stück von dem Kuchen, nickte. »Es war hart, zugegeben. Aber er kämpfte. Wir sprachen über das Menschenbild der Bibel, die anthropologischen Entwürfe von Hobbes und Rousseau. Hobbes, den englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, der im Menschen ein von Grund auf egoistisches, böses Wesen sah, das nur durch einen starken Staatenlenker zu sozialem Verhalten gezwungen werden kann. Rousseau, den französischen Denker der Vorrevolution, der dem Menschen einen guten Kern zubilligte, ihn aber unter dem Einfluss der Gesellschaft zu einer geld- und machtgierigen Existenz verkommen sah. Die Auffassung der Bibel, dass wir von Grund auf gut geschaffen wurden, durch unerklärbare Einflüsse aber, mit dem Bild des Sündenfalls umschrieben, auch gewaltige, zum Schlechten zielende Kräfte in uns bergen.
Andreas konnte nachvollziehen, dass jeder Mensch das Potential dazu hat, den Hitler in sich zu bekämpfen und Albert Schweitzer mehr Raum zu schaffen. Die Rahmenbedingungen unserer primär auf Egomanie und Erfolg getrimmten Gesellschaft reduzieren die Möglichkeiten gerade der jungen Menschen allerdings erheblich. Oft werden sie von den äußeren Umständen oder den Einflüssen bestimmter Medien ihrem inneren Hitler geradezu ausgeliefert. Andreas ist ein Paradebeispiel für diese Entwicklung. Er ist Täter und Opfer zugleich.«
»Machen wir es uns nicht sehr einfach mit dieser These?«, fragte Braig. »Stecher hat mehrere Menschen ermordet. Daran sind doch nicht nur die Umstände schuld! Wenn Fernsehserien Heranwachsende so schnell zur brutalen Gewalt verführen, wieso sind dann nicht alle Jugendlichen kriminell?«
Josef Groß erhob sich, schenkte ihnen Kaffee nach. »Wir machen es uns mit dieser Erklärung nur dann zu einfach, wenn wir sie pauschal auf alle Straftäter beziehen. Natürlich stecken sehr viele Jugendliche die Einflüsse von Gewaltfilmen weg – wie weit, können wir nicht feststellen, unsere Kenntnisse über die Genese der menschlichen Psyche sind dazu noch nicht weit genug fortgeschritten. Aber wir wissen auch – und diese Entwicklung lässt sich empirisch belegen – dass etliche junge Leute, vor allem Männer, extrem schnell bereit sind, sich von Beispielen besonderer Rücksichtslosigkeit und deutlicher Gewaltverherrlichung imponieren zu lassen, dass sie buchstäblich über Leichen gehen, um dieses Idol nachzuahmen. An dieser Tatsache kommen wir nicht vorbei. Wer gewaltverherrlichende Filme in die Öffentlichkeit bringt, weiß mit hundertprozentiger Sicherheit, dass ein Teil der Heranwachsenden dadurch zu Gewaltakten gegen andere Menschen verleitet wird. Das ist strukturelle, staatlich legitimierte Verführung zu Gewalt.
Andreas wurde zu einem der Opfer dieses Fernsehsenders. Schuld tragen in erster Linie die verantwortlichen Programmgestalter der TV-Anstalten und jene Politiker des rechten Spektrums, die die Existenz privater Fernsehgesellschaften in den achtziger Jahren legitimierten. Leider standen die Richter in Andreas’
Weitere Kostenlose Bücher