Schwaben-Zorn
schrie auf, rannte vom Fenster weg, lief taumelnd in den Hur. Als sie die Garderobe passierte, blieb sie an ihrer Jacke hängen. Irgendein flacher Gegenstand fiel auf den Boden. Sie spürte den Schwächeanfall, drohte für einen Sekundenbruchteil das Bewusstsein zu verlieren, klammerte sich an der Jacke fest. Die Wände des Hurs schienen zu schwanken, Schwindel warfen ihren Körper wie ein Schiff im Sturm hin und her. Sie schnappte nach Luft, fiel auf den Boden des Hurs. Ihr Herz raste, der Schweiß rann ihr in Strömen aus den Achseln, über die Stirn, vom Kinn.
Sie brauchte Minuten, sich zu beruhigen. Das Erste, was sie wahrnahm, war das erneute Miauen der Katze. Das Tier saß einen halben Meter vor ihr in unmittelbarer Nähe der Garderobe, starrte ängstlich zu ihr her, den Kopf leicht zur Seite geneigt, das seltsame Verhalten des Menschen vor sich aufmerksam verfolgend.
Lisa drückte sich vorsichtig vom Boden hoch, wischte sich den Schweiß von der Stirn, streckte die Hand nach der Katze aus. Der Vierbeiner miaute erneut, wich vorsichtig vor ihr zurück. Als sie das Tier fast erreicht hatte, sah sie das Kuvert auf dem Boden liegen, genau unter ihrer Jacke.
Sie brauchte nicht zu überlegen, erkannte es sofort. Es handelte sich um das flache Päckchen, das sie beinahe das Leben gekostet hatte. Von der Plattform fliehend, war sie darüber gestolpert, hatte es in einem unüberlegten Reflex an sich gerissen und in die Tasche der Jacke gesteckt: das Kuvert mit der Diskette, die Gronau für seine Ermittlungen benötigte.
Lisa griff nach dem Päckchen, tastete es vorsichtig ab, spürte die Umrisse der Diskette, öffnete den Verschluss. Das schmale Rechteck war unversehrt.
Sie erhob sich nun vollends, trat in Gronaus Arbeitszimmer, schaltete seinen Computer ein. Sie hatte nur noch ein Ziel: Zu erfahren, was so wichtig war, dass man ohne Zögern ihr Leben dafür opfern wollte.
21. Kapitel
Kurz nach achtzehn Uhr an diesem Donnerstag war Lorenz Meyer endlich bereit, alles offenzulegen. Sie hatten ihn mitgenommen ins Amt, ihn zuerst gemeinsam, dann abwechselnd, um ihre eigenen Kräfte und Nerven zu schonen, einem ununterbrochenen Verhör unterzogen, waren dennoch nicht über den Moment hinausgekommen, an dem er sich angeblich von Christina Bangler getrennt hatte. 21.55 Uhr – Meyer beharrte darauf, nach dieser Zeit keinerlei Kontakt mehr zu der kurz darauf ermordeten jungen Frau gehabt zu haben.
Dem Gerichtsmediziner zufolge, den Braig an diesem Mittag eigens noch einmal befragt hatte, war das der frühestmögliche Termin für den Eintritt des Todes – er plädierte allerdings eher für einen späteren Zeitpunkt, konnte es jedoch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass der Mord schon gegen zehn erfolgt war. Braig und Neundorf waren sich zudem einig, dass sie die Zeitangabe Meyers äußerst kritisch betrachten mussten: Der Mann hatte keinen Beleg dafür gebracht, dass er und seine Begleiterin das Café wirklich um 21.55 Uhr verlassen hatten. Wer garantierte, dass er nicht ganz bewusst, um sich von vornherein aus dem Kreis der potentiellen Täter auszuschließen, einen falschen Termin genannt hatte? Jeder Laie wusste dank des Fernsehnes, dass die Medizin heute so weit fortgeschritten war, dass sie in Kenntnis der am Fundort herrschenden Temperaturen fähig war, den Tatzeitpunkt recht exakt zu bestimmen.
Hatte Meyer, diese Tatsache ausnutzend, bewusst einen früheren Termin ins Spiel gebracht, um sich damit aus der Verantwortung zu stehlen? Nein, die Zeitangabe war reine Glaubenssache,. die Aussage dehnbar wie Gummi.
Im Bewusstsein, ihn bis ins Detail zu überprüfen, waren sie von Leonberg direkt nach Waiblingen gefahren, hatten im Café Bellini nach der Bedienung gefragt, die am Montagabend serviert hatte. Es war ein junger Mann, der in der Martin Luther Straße, etwa 800 Meter vom Café entfernt wohnte; dieser sah sich jedoch außerstande, den Zeitpunkt zu nennen, an dem Meyer und Christina Bangler gegangen waren. Nicht einmal die Anwesenheit der Ermordeten konnte er bestätigen, er hatte mit einem grippalen Infekt zu kämpfen und war deshalb nicht ganz auf der Höhe, hatte seine Arbeit getan, so gut es ging. Er erinnerte sich lediglich Meyers und einer Begleiterin an jenem Abend. Das Café war zwar spärlich besucht gewesen, außer einem Stammgast, dem er jedoch für diesen Zeitpunkt einen solchen Alkoholpegel zuschrieb, dass er kaum imstande sein konnte, auf Minuten genau das Kommen und Gehen
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