Schwaben-Zorn
einverstande?«
Braig nickte, bedankte sich für die Gastfreundschaft. »Wann müssen Sie aus dem Haus?«, fragte er.
Der Mann schaute auf die Uhr an der Wand. »In zehn Minuten. Die S-Bahn fährt kurz vor halb.«
»Sie arbeiten in Stuttgart?«
Dumrul Ince bestätigte seine Vermutung. »Bei der Bahn. Züge in Ordnung bringen.« Er seufzte laut. »Ein hartes Geschäft. Eine Woche Nachtschicht, dann Tag, dann wieder Nacht. Viel zu wenig Zeit für meine Familie.«
»Ihre Frau arbeitet ebenfalls?«
»Ja. Hier in Böblingen bei Hewlett- Packard. Aber jetzt isch sie in der Türkei.«
Braig schaute überrascht zu ihm auf. »Ihre Frau?«
Ince zog die Nase hoch, kniff seine Lippen zusammen. »Ihre Mutter«, er stockte, streckte die Arme weit von sich, »es geht ihr schlecht. Allah allein weiß, wie lange noch. Es isch besser, sie isch bei ihr. Nicht dass sie sich später Vorwürfe macht.«
»Seit wann ist sie dort?«
»Seit einer Woche«, erklärte der Mann, »ich habe nichts dagege. Es isch gut so. Deine Eltern hasch du nur einmal.« Er drehte sich um, schaute zur Tür. »Nur Serpil isch hier. Sie muss arbeite.«
Die junge Frau war fast lautlos hinter ihm ins Zimmer getreten. Braig und Neundorf sahen erstaunt zu ihr auf. Serpil Ince trug ein weites, weißes Sweatshirt und dunkelblaue Jeans, hatte kurze, dunkle Haare, ein hübsches, schmales Gesicht. Braig schätzte sie auf Anfang, höchstens Mitte zwanzig. In ihrer Rechten hielt sie eine kleine Teekanne.
»Serpil Ince«, stellte sie sich vor, »mein Vater erzählte mir, Sie wollen mich sprechen?« Sie stellte die Teekanne auf die Tischplatte, reichte Neundorf und Braig die Hand.
»Ihr Vater«, sagte Neundorf.
Braig merkte, dass seine Kollegin genauso überrascht war, wie er selbst. Er hatte gedacht, Meyer habe ein Verhältnis mit der Ehefrau des Mannes, war nicht auf die Idee gekommen, es könne sich um die Tochter handeln. Braig überlegte, dass Serpil Ince kaum älter als Christina Bangler war. Der Autohändler hatte offensichtlich ein Faible für jüngere Frauen.
»Sie haben ihn angerufen, vor einer Stunde etwa?«
Braig hatte sich aus seinem unbequemen Sitz erhoben, bestätigte die Frage. »Wir sind vom Landeskriminalamt, meine Kollegin Katrin Neundorf und ich. Mein Name ist Steffen Braig.« Er streckte ihr seinen Ausweis entgegen, sah, dass sie der Karte keine besondere Aufmerksamkeit schenkte.
»Worum geht es?« Ihre Aussprache war frei von jedem fremdländischen Akzent, doch deutlich von schwäbischen Idiomen geprägt.
»Trinken Sie einen Tee mit uns?«, fragte Neundorf. Sie zeigte auf die Tassen auf dem Tisch, sah das Nicken der jungen Frau.
Serpil Ince nahm die Kanne in die Hand, schenkte der Reihe nach ein. Sie hatte Neundorfs Versuch, Zeit zu gewinnen, bis der Mann aus dem Haus war, offenbar verstanden.
»Mein Vater muss leider zur Arbeit«, erklärte sie dann, den Blick auf die Uhr an der Wand gerichtet, »du musst dich beeilen.«
Dumrul Ince nahm seine Tochter in den Arm, verabschiedete sich mit einem Händedruck von den Kommissaren. »Du kommst wirklich allein zurecht?«, fragte er.
Die Antwort war eindeutig. »Ich bin dreiundzwanzig.«
Neundorf wartete, bis der Mann den Raum verlassen hatte, nahm die Tasse in die Hand. »Sie leben noch bei Ihren Eltern.«
Serpil Ince blickte zur Tür, lauschte den Geräuschen aus dem Flur. »Das ist türkische Tradition. Wir leben zwischen zwei Kulturen. Ich denke, meine Eltern haben Schwierigkeiten sich zurechtzufinden.« Sie setzte sich auf das Sofa. »Es hat Jahre gebraucht, bis meinem Vater klar war, dass ich erwachsen bin und mich nicht mehr von seinen Vorstellungen leiten lasse.«
»Trotzdem wohnen Sie noch hier.«
»Das hat andere Gründe.« Sie trank von dem Tee, stellte die Tasse zurück. »Meine Schwester starb vor zwei Jahren, hier in Böblingen. Gerade als ich ausziehen wollte.«
»Ein Unfall?«, fragte Braig.
Die junge Frau nickte. »Ayse wollte mit dem Fahrrad zur Schule. Ein Lastwagenfahrer übersah sie. Es war nichts mehr zu machen.«
Sie schwiegen, gaben ihr Gelegenheit, zu sich zu finden.
»Sie war zwölf. Lustig, fröhlich, immer gut drauf. Und dann passierte es. Mitten im Sommer.« Sie schluckte laut, wischte sich Tränen aus den Augen.
Braig suchte nach einem Papiertaschentuch, reichte es ihr. Sie nahm es, bedankte sich, tupfte sich die Wangen ab.
»Mein Vater hätte es beinahe nicht überlebt. Er war immer, so lange ich ihn kenne, ein freundlicher Mensch. Voller Freude, wie
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