Schwaben-Zorn
hatten.
»Sie sind sich absolut sicher, was die Anwesenheit Ihres Freundes bis nach Mitternacht angeht?«, hatte er jeden der beiden Männer abschließend noch einmal gefragt.
Sie waren ohne jeden Abstrich bei ihren Aussagen geblieben.
Braig hatte beide aufgefordert, sich in den folgenden Stunden für ein persönliches Gespräch zur Verfügung zu halten, war dann bei Anja Wintterlin vorstellig geworden und hatte sie gebeten, nach Kornwestheim und Markgröningen zu fahren und Joachim Haag und Marc Reichel persönlich unter die Lupe zu nehmen.
»Jetzt warten wir noch die DNA-Analyse ab«, hatte Neundorf erklärt, dann Pflüger sein Geständnis unterschreiben lassen und die Staatsanwaltschaft über ihren Ermittlungserfolg informiert. »Und dann fangen wir wieder ganz von vorne an«, brummte Braig, als der Mann abgeführt worden war. Er hatte die Offentlichkeitsabteilung des Amtes informiert und für 17 Uhr eine Pressekonferenz anberaumt. »Was Christina Banglers Tod angeht, sind wir keinen einzigen Schritt weiter. Falls Pflügers Alibi stimmt.« Er spürte seine Erschöpfung, die Strapazen des ohne größere Pausen abgearbeiteten Tages, ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf. Mit beiden Händen klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht.
»Eigentlich müssten wir uns freuen, dass wir den Tod Karen Rommels so schnell aufklären konnten«, sagte Neundorf, schaute auf ihre Uhr, »der Buchhändlerin sei Dank in nicht einmal zwanzig Stunden.«
Braig trocknete sein Gesicht, nahm sein Glas, füllte es mit Wasser, trank in vollen Zügen. »Du auch?«, fragte er, zu seiner Kollegin gewandt.
Neundorf schüttelte den Kopf. »Aber ich kann mich nicht freuen. Mir ist wirklich nicht danach zumut.«
»Karen Rommel?« Braig verstand genau, was sie meinte. »Was für ein verrückter, sinnloser Tod.« Er stellte das Glas wieder ab, lief zum Fenster, schaute in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel.
»Warum? Warum musste die junge Frau sterben?«
»Er behauptet, er habe sie nicht gekannt.«
»Du glaubst ihm nicht?«
Braig gab keine Antwort.
»Er ist unterwegs zu einem Rockkonzert, läuft über den Arsenalplatz, sieht eine junge Frau vor sich aus dem Nebel tauchen, stürzt sich auf sie, bringt sie um.«
Feiner Nieselregen prasselte ans Fenster.
»Wäre ich ihm auf dem Platz begegnet«, fuhr Neundorf fort, »hätte er sich dann auf mich gestürzt?«
Braig drehte sich um, bemerkte ihre ins Leere gerichteten Augen. Sie sah erschöpft aus, mitgenommen; ihre Wangen wirkten eingefallen, ihr fehlten die gewohnte Vitalität und Spannkraft. Er dachte an ihre erst vor wenigen Tagen durchgeführte Operation. Sie hatte sich zu viel zugemutet. »Du musst dich schonen«, sagte er, »du bist noch nicht lange aus dem Krankenhaus.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, antwortete sie schroff, »ich will wissen, wer die Verantwortung für dieses beschissene Leben trägt.«
Braig fuhr sich mit der Rechten durch die Haare, massierte seine Schläfen, um die stechenden Schmerzen zu vertreiben.
»Es gibt keine Antwort. Das weißt du so gut wie ich.« Er lief zu seinem Schreibtisch, ihre Worte im Ohr.
Warum musste die junge Frau sterben?
Uber seinen Monitor glitten geräuschlos Züge aus verschiedenen Ländern, einige langsam, andere schneller. Lokomotiven kuppelten Wagen an, blieben einige Sekunden stehen, fuhren dann langsam weiter. Der neue Bildschirmschoner, den ihm Ann-Katrin vor wenigen Wochen geschenkt hatte.
Warum musste die junge Frau sterben?
Hatte Karen Rommel zweiundzwanzig Jahre gelebt, mit dem Ziel, an einem nebelverschleierten Novemberabend auf einem Parkplatz erwürgt zu werden?’Die Frage reichte in Dimensionen, denen er im Moment nicht gewachsen war.
Braig schüttelte den Kopf. So hatte es keinen Sinn. Er durfte sich jetzt nicht tiefschürfenden Überlegungen über die Hintergründe unserer Existenz hingeben. Nicht, solange der Mörder Christina Banglers auf freiem Fuß war. »Speed«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu seiner Kollegin, »ist das die Erklärung?«
Sie seufzte laut auf, wandte sich ihm zu. »Frankenstein lässt grüßen. Dass es sich bei Ecstasy um keine harmlosen Aufputschmittel handelt, sollte inzwischen der letzte Idiot begriffen haben. Spätestens seit der Sache in Bayern. Du kennst die neuen wissenschaftlichen Untersuchungen?«
Braig nickte, wusste, was sie meinte. Seit vor einigen Monaten ein junger, bisher unbescholtener Mann in München in einem Anfall zerstörerischer Aggressivität
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