Schwaben-Zorn
ohne jeden Grund über einen älteren Freund hergefallen war und ihm beide Augen ausgedrückt hatte, war die Aufmerksamkeit vieler Mediziner und Kriminalisten auf die unberechenbaren Folgen ungehemmter Ecstasy-Einnahme gelenkt worden. Der Täter, von allen Bekannten übereinstimmend als außergewöhnlich sozial und zuvorkommend beschrieben, hatte zuvor zwei jener Glückspillen geschluckt, die ihm eine lange Disco-Nacht ohne körperliche Erschöpfung garantieren sollten. Stundenlang an diesem Abend war er in seiner Wohnung umhergerannt, hatte das Mobiliar und die Bilder zertrümmert und dann den herbeigeeilten Freund attackiert. Die bei jugendlichen Discobesuchern beliebte Droge hatte den Mann in ein unberechenbares Monster verwandelt. Der Vorfall in München war jedoch kein Einzelfall, er hatte nur das Licht der Öffentlichkeit auf dieses bisher weitgehend tabuisierte Feld gelenkt. Braig war durch mehrere vom LKA und anderen Institutionen erstellte Untersuchungen darüber informiert worden, dass sich unkontrollierte Attacken auf Unbeteiligte infolge Ecstasy-Konsums in beunruhigendem Ausmaß häuften. Paranoide Wahnvorstellungen, unvermittelt eintretende Halluzinationen und wochenlang anhaltende Psychosen wurden bei Konsumenten so genannter leichter Drogen immer häufiger diagnostiziert. Erste wissenschaftliche Langzeituntersuchungen von Aufputschmittel-Nutzern hatten bleibende Gehirnschäden und durch Kreislaufkomplikationen eintretende Todesfälle ergeben. Der weitgehend ungehemmte Zufluss immer neuer Glückspillen und ihr unkontrollierter Verkauf verschärften das Risiko ihrer Einnahme, gab es doch keinerlei Informationen über die Stoffe, die den jeweiligen Tabletten beigemischt waren.
»Wir sollten uns bei den Kollegen vom Drogendezernat erkundigen. Vielleicht haben sie Informationen, was zur Zeit auf dem Markt ist.«
Braig stimmte ihr zu, suchte die Nummer, gab sie ein. Raffaela Kurz, eine der zuständigen Kommissarinnen, war am Apparat. Braig informierte sie über das Ermittlungsergebnis.
Die Kollegin zeigte augenblicklich Interesse. »Das haben wir befürchtet«, erklärte sie, »die Sache eskaliert.«
»Habt ihr genauere Erkenntnisse?«
»Wir müssen uns den Mann sofort vornehmen, ihn fragen,wo er sich das Zeug besorgt hat. Seit zwei Wochen ist eine neue Sorte im Umlauf. Wir haben bereits mehrere Aussetzer konstatiert. Schlägereien ohne jeden Anlass, Gewaltattacken gegen die eigenen Freunde mitten in der Disco. Im gleichen Zusammenhang auch Augenbluten.«
»Wie bitte?« Braig hatte das Telefon auf Zimmerlautstärke gestellt, damit Neundorf mithören konnte.
»Augenbluten«, wiederholte Raffaela Kurz. »Das Zeug bewirkt blutende Augen. Schon nach der Einnahme einer einzigen Pille. Sie sind unterschiedlich dosiert, enthalten winzige Kristalle, die die Schleimhäute aufritzen. Die Konsumenten verlieren Teile ihrer Sehfähigkeit, nehmen ihre Umwelt anders wahr. Manche fühlen sich von anderen in ihrer Nähe bedroht, ohne jeden Grund. Eine hastige Bewegung, eine laute Bemerkung und sie rasten aus. Sonst absolut friedliche Leute glauben sich in größter Gefahr, schlagen sofort zu. Wir haben schon mehrere schwerverletzte Opfer.«
»Ihr wisst nicht, woher das Zeug stammt?«
»Es ist erst seit etwa zwei Wochen im Umlauf. Zu kurz, um schon dagegen vorgehen zu können. Außerdem fehlen uns die Kapazitäten. Der Markt wird überschwemmt mit den unterschiedlichsten Materialien. Von überall her. Wir sind dabei, den Überblick zu verlieren. Letzte Woche haben wir einen ganzen Verteilerring bloßgelegt, über dreißig Dealer geschnappt. Vor zehn Tagen gelang es uns, ein Labor auszuräuchern. Fast zehntausend Pillen auf einen Schlag. Die Kollegen in Nordrhein-Westfalen lokalisierten einen zur Ecstasy-Produktion umgebauten alten Weltkriegs-Bunker. An der polnischen Grenze entdeckten die Brandenburger eine Garage, in der drei Mann Tabletten zusammenpanschten. Geschätzter Wert des Materials: über 20 Millionen Euro. Was soll’s? Du merkst nichts von diesen Erfolgen. Alles ist weiterhin zu bekommen, wie zuvor. Jetzt liefern sie es eben aus dem Ausland. Dabei wird das Zeug immer gefährlicher. Die packen alles rein, was irgendwie aufputscht, aber nicht viel kostet. Egal, welche Wirkung das hat.«
»Ihr überprüft den Inhalt, wenn ihr an das Material herankommt?«
»Unsere Chemiker sind ständig beschäftigt, ja. Paracetamol, Koffein, Milchzucker, Backpulver – es gibt nichts, was nicht untergemischt wird. Für
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