Schwanengesang – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
»Mitre«.
»Ganz sicher wird es Ihnen nicht gut tun, Meister, so viel Bier zu trinken.«
»Ich werde so viel Bier trinken, wie ich möchte, Beatrix.«
»Selbstverständlich. Sie dürfen jedoch Ihre Gesundheit nicht gefährden.«
»Meine Gesundheit ist seit Jahren gefährdet.«
»In diesem Fall sollten wir Vorsorge treffen, damit sie nicht vollkommen ruiniert wird.«
»Wenn sie ruiniert ist, ist sie ruiniert, und damit hat es ein Ende.«
»Aber Sie haben Verpflichtungen, der Nachwelt gegenüber.«
»Die Nachwelt hat für mich noch nie irgendetwas getan … Ich frage mich, warum Wilkes diese sonderbare Bitte vorbrachte?«
»Mir kommt er verdächtig vor.«
»Zweifellos hat er seine Gründe. Beatrix, ich denke daran, einen kleinen Sportwagen zu kaufen.«
»Besser nicht. Der Lärm wäre Ihnen unerträglich.«
»Aber ich liebe Lärm. Du scheinst nicht zu begreifen, dass ich Lärm liebe .«
»Unsinn, Meister.«
»Das ist kein Unsinn. Wenn ich einen kleinen Sportwagen will, soll ich auch einen bekommen.«
»Natürlich, wenn Sie darauf bestehen … Aber lassen Sie mich Ihnen die Nachteile aufzählen.«
»Nein, nein.«
»Erstens …«
»Ich bat dich darum, still zu sein, Beatrix. Ich versuche gerade, mir die Eröffnungsszene meiner neuen Oper vorzustellen.«
»Ich wollte nur sagen, dass …«
»Sei still. Wie soll ich mich konzentrieren, wenn du immerzu von Autos sprichst?«
»Schon gut, Meister.«
»Wie bitte?«
»Schon gut, sagte ich.«
»Oh.«
Auf der Carfax bestieg Karl Wolzogen einen Bus, der ihn nach Headington brachte. Von dort aus lief er in Richtung Wheatley – eine kleine, magere, gebeugte Gestalt, die dahintrottete, die Hände in die Taschen eines schäbigen Mantels vergraben, um sie zu wärmen. Er besaß diesen Mantel schon so lange, dass er komplett vergessen hatte, wo und wann er ihn gekauft hatte. Ganz bestimmt irgendwo in Deutschland oder Österreich. Er blieb stehen, um das speckige Etikett zu untersuchen, das unten in den Ärmel eingenäht war. Friedrich Jensen, Wettinerstraße 83d, Dresden. Jetzt erinnerte er sich – erinnerte sich auch, dass in der Wettinerstraße ein Mädchen gewohnt hatte, ein dunkelhaariges Mädchen, vielleicht eine nachgedunkelte Schrumpfgermanin, oder mit jüdischem Blut vielleicht. Was wäre im letzteren Fall mit ihr geschehen? Mit der Oper konnte sie nichts anfangen. » Das alles ist altmodisch «, hatte sie gesagt. Aber er war auch altmodisch. Je älter er wurde, desto mehr lebte er in der Vergangenheit. Das bedeutete, dass das Ende nahe war, und er war so lebenssatt, dass ihm das nichts ausmachte. Abgesehen vielleicht von der Einsamkeit, die der Dank für seine ausschließliche Beschäftigung mit der Musik gewesen war, hatte die Welt ihm ausschließlich das geschenkt, was er sich gewünscht hatte. Er konnte mehr als zufrieden sein.
Ein vorbeieilender Arbeiter grüßte und warf ihm einen kurzen, eindringlichen Blick voller Neugier zu, als er den Gruß erwiderte. Sie misstrauen uns, dachte er. Sie misstrauen den Deutschen, und man kann ihnen deswegen keine Vorwürfe machen. Aber sie wissen nicht, dass auch wir Ihnen misstrauen. Dresden in Trümmern … Das Opernhaus zerstört; nicht länger eine Zuflucht für die Schatten von Weber und Wagner und Strauss. Aber Strauss lebte. Er war in Garmisch. Er war operiert worden. Vielleicht würde er sich freuen, wenn ihn jemand besuchte, der denselben Hintergrund hatte, dieselben Erinnerungen wie er … Gab es immer noch Tauben auf der Brühlschen Terrasse ? Die hohen, dicken, schwarzen Masten, die an den Ecken des Postplatzes standen, jeder mit einem winzigen goldenen Hakenkreuz versehen, würde man entfernt haben. Kein großer Verlust … Heiße Schokolade in einem Lokal am Neumarkt, und Frieda, die beleidigt schwieg, während er über Opern sprach. Eines Abends hatte sie ihn in ihr Bett gelassen. Er hatte sich ungeschickt angestellt, es war ein Reinfall gewesen, aber das zählte jetzt nicht mehr. So wie auch die drei Jahre während des Niedergangs jetzt nicht mehr zählten, die er am Rande des Hungertods verbracht hatte. Von nun an würde er genug zu Essen haben, bis er starb …
Edwin Shorthouse ist tot, dachte er, die Teile seiner zerlegten Leiche liegen wieder hübsch beisammen in einem Sarg. Der wird keinen Ärger mehr machen, und das ist gut so, richtig und gerecht.
Judith Stapleton bog an der New Bodleian um die Ecke und ging dann die Parks Road hinunter. In diskretem Abstand folgte ihr ein Mann. Sie ging
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