Schwanengrab
anderen nicht mehr da.« Er warf einen kleinen Stein gegen die Mauer. Dann hörten wir das Läuten der Glocke. Als er aufstand, reichte er mir seine Hand, um mich hochzuziehen.
Wieder der Juni, dachte ich. Immer wieder dieser eine Monat. »Und warum ist sie weg?«, hakte ich nach, während wir zurück zum Schulgebäude gingen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung. Da gab es so komische Gerüchte von wegen Drogen oder Tabletten. Weiß nicht genau.«
Drogen? War Neela deshalb so durchgeknallt und rannte im Faschingskostüm durch die Gegend?
Die Schulglocke läutete ein zweites Mal. Wir mussten uns beeilen. Geli kreuzte unseren Weg und lief dann ein Stück vor uns zum Haupteingang. Unweigerlich senkte ich die Stimme.
»Und dann?«
»Neela ist ein komischer Typ. Kurz nach Veronikas Unfall hat sie so seltsame Andeutungen gemacht.«
»Was denn für Andeutungen?«
»Sie hatte wohl eine Zeit lang gedacht, dass Veronikas Tod kein Unfall war«, gab er leise zur Antwort.
Ich blickte ihn erschrocken an. Kein Unfall? Was denn dann? Doch nicht etwa? Ich schüttelte den Kopf. So ein Unsinn. »Wie ist sie denn gestorben?«
»Sie hatte eine sehr heftige allergische Reaktion aufgrund eines Insektenstichs. Anaphylaktischer Schock nennt man das.« Seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck angenommen.
»Aber so etwas kann man doch nicht absichtlich herbeiführen. Ich meine ... ein Insektenstich ...«
»Klar kann man das nicht. Aber Neela hat uns alle mit ihrem Quatsch bombardiert, obwohl wir es gar nicht hören wollten. Sie ließ sich noch nicht einmal von den Untersuchungsergebnissen der Polizei davon abbringen und meinte sogar, es würde sie nicht wundern und dass Veronika mit ihrer Art auch schon mal aneckte.«
»Ach ja?«
»Wenn du mich fragst: Neela war vollkommen durch den Wind.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber das Problem hat sich ja dann eh erledigt, weil sie von der Schule gegangen ist. Ich will jetzt auch nicht mehr darüber reden. Hab Chemie, muss da rüber!« Er deutete nach rechts.
»Tut mir echt leid, wenn ich dich zu sehr gelöcherthabe. Aber die ganze Situation ist für mich auch nicht gerade einfach.«
»Schon in Ordnung.« Er klang, als wäre es ganz und gar nicht so.
Themawechsel! »Ich brauche dringend einen neuen Akku für mein Handy. Weißt du, wo ich so etwas bekomme?« Was anderes war mir auf die Schnelle nicht eingefallen und außerdem brauchte ich dieses Teil tatsächlich.
»Kennst du dich schon aus in der Gegend?«
»Nein, ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mir alles anzusehen.«
»Hm! Ich bin morgen in der Stadt. Wenn du willst, können wir uns treffen.«
»Gern!«, erwiderte ich freudig und spürte plötzlich ein Kribbeln im Bauch. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich heute mal wieder nicht gefrühstückt hatte.
Plötzlich lächelte er. »Ich hol dich ab, in Ordnung? Um zehn?«
»Perfekt!« Er bog nach rechts, während ich durch den Haupteingang zu meinem Klassenzimmer eilte.
Kapitel 16
Nach der Englischstunde hielt mich Frau Wagner auf. »Du sollst zu Herrn Simon ins Lehrerzimmer kommen, bevor du nach Hause gehst«, sagte sie. Warum das denn schon wieder? Das Mathe-Aufgabenblatt heute Morgen hatte ich doch ganz gut gelöst, oder?
Im Lehrerzimmer begrüßte mich Herr Simon mit seinem breiten Zahnpasta-Lächeln. Er legte seinen Arm um meine Schulter und schob mich in sein Büro.
»Na? Wie war die erste Woche für dich, Sam?«, fragte er freundlich.
»Schon okay!«
»Irgendwelche Probleme oder sonst was, das du mit mir besprechen willst?« Er legte seine Hand auf meinen Arm.
Sollte ich ihm von den Drohbriefen erzählen? Nein, ich hatte in den letzten Tagen keinen mehr erhalten. Würde sich Herr Simon jetzt in der Schule danach erkundigen, vielleicht sogar jemanden deswegen zur Rede stellen ... unmöglich! Dann wäre ich endgültig unten durch.
»Die anderen aus der Klasse sind nicht so glücklich, dass ich hier bin«, meinte ich schließlich nur.
Er neigte den Kopf ein wenig und sah mir lange in die Augen. Es war mir unangenehm und ich senkte den Blick.
Seine Finger fuhren meinen Arm hinunter und er fasste meine Hand. Was war das denn jetzt?
»Du erinnerst sie an jemanden, der einmal auf unsere Schule gegangen ist.«
Entschieden zog ich meine Hand weg. »Ja, ich weiß! Veronika!«
Er zuckte zusammen, als ich ihren Namen aussprach. Seine Stirn zog sich in Falten. Dann schüttelte er den Kopf, ging zu einem Schreibtisch und setzte sich auf die Kante.
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