Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Rosemary nicht verstand, kurz darauf erschien ein Mann aus einem der hinteren Räume.
Er sah sie an. »Sie haben eine Reservierung?«
Rosemary wiederholte ihren Namen, der Mann ließ sich vor einem Computer nieder und tippte etwas in die Tastatur. Die Frau in Putzkleidung blieb neben ihm stehen und musterte Rosemary mit unergründlicher Miene. Ihr Argwohn war mit Händen zu greifen. Rosemary brach der Schweiß aus. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in ihr auf, an ihre Jugend in einem Weißenviertel, wo Menschen mit dunkler Hautfarbe nur als Putzfrauen oder Gärtner eine Daseinsberechtigung hatten. An die Spottlieder auf dem Schulhof, die geklauten Bücher, den mit roter Farbe besudelten Spind. Rosemary zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Sie war eine erfolgreiche Anwältin, niemand beschimpfte sie mehr als schwarze Pest oder Niggerhure. Sie versuchte, die Blicke der Frau zu ignorieren, doch sie brannten wie kleine Flammen auf ihrer Haut.
»Ah, da haben wir es ja«, sagte der Mann schließlich. »Zimmer 106, erster Stock.«
»Ist aber noch nicht fertig«, fuhr die Frau dazwischen.
»Das macht nichts«, beeilte Rosemary sich zu sagen. »Vielleicht könnte ich einen Kaffee bekommen? Und eine Karte von der Gegend?«
»Selbstverständlich«. Auf dem Gesicht des Mannes erschien so etwas wie ein Lächeln. »Setzen Sie sich doch in den Frühstücksraum. Ich lasse Ihnen einen Kaffee bringen.« Er deutete auf eine halb geöffnete Tür, durch die leises Stimmengemurmel drang, dann warf er der Frau einen auffordernden Blick zu. Nach kurzem Zögern und einem letzten Blick auf Rosemary verschwand sie.
Rosemary ließ den Koffer stehen, stieß die Tür auf und trat in den angrenzenden Raum. Vier Menschen blickten kurz auf und widmeten sich dann wieder ihrem Frühstück. Ein älteres Ehepaar saß in Wanderkleidung beim Fenster, beide kauten an Scheiben von grauem, deutschen Brot, das mit irgendeiner Wurst belegt war. Das andere Paar war jünger, der Mann war blond und sah aus, als würde er wenig Wert auf eine gepflegte Erscheinung legen. Sein T-Shirt warf Falten, die Jeans hatten schlammbespritzte Aufschläge. Die Frau war wohl einige Jahre jünger als er, ihr kastanienbraunes Haar rahmte ihr hübsches Gesicht perfekt ein. Auch sie trug Jeans und ein weinrotes T-Shirt über der rosafarbenen Bluse, doch bei ihr wirkte alles faltenfrei und frisch gewaschen. Die beiden waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Die Frau schien etwas zu wollen, was dem Mann nicht in den Kram passte, seine Körperhaltung drückte Abwehr aus.
Seufzend ließ Rosemary sich auf einen Platz am Fenster gleiten, von wo sie etwas von der Stadt sehen konnte. Bill und sie waren auch häufig nicht einer Meinung gewesen. Mehr noch, ihre Beziehung hatte sich im Laufe der Jahre zu einem einzigen Disput über unterschiedliche Lebensauffassungen entwickelt. Trotzdem vermisste sie ihn. Es gab keinen Menschen, der sie besser kannte. Auch wenn er meistens anderer Meinung gewesen war, hatte Bill sie immer blind verstanden. Leider hatte das als Fundament für eine Beziehung letztendlich nicht ausgereicht. Vor zwei Jahren hatte er sie verlassen, war nach Kalifornien gezogen. Noch einmal neu anfangen, hatte er gesagt. Neues Haus, neuer Job – und eine neue Frau. Eine, die ihn anhimmelte und nicht ständig alles infrage stellte, was er sagte.
Ein junges Mädchen kam und stellte ihr eine Tasse Kaffee hin. »Karte kommt gleich«, sagte sie.
»Danke.« Rosemary gab Milch und Zucker in den Kaffee. Während sie an dem heißen Getränk nippte, schaute sie wieder zu dem jüngeren Paar. Der Mann hob die Hände, sagte etwas und stand auf. Die Frau folgte ihm. Auf dem Weg zur Tür kamen sie an Rosemarys Tisch vorbei.
»Willst du denn nicht die Wahrheit wissen?«, fragte die Frau.
Der Mann drehte sich zu ihr um. »Ehrlich gesagt: Nein! Es interessiert mich nicht. Ich will nur so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden!« Er zog die Tür auf und marschierte ins Foyer.
Die junge Frau blieb stehen und hob resigniert die Schultern. Ihr Blick fiel auf Rosemary, die ihr aufmunternd zulächelte. Zu ihrer Überraschung lächelte die Frau zurück.
»Männer«, sagte sie kopfschüttelnd, bevor sie ebenfalls im Foyer verschwand.
*
Katrin wandte ihren Blick von der Frau ab und folgte Manfred ins Hotelfoyer. Warum war er nur so stur? Warum interessierte ihn nicht, wieso sein Onkel sein Heim mit einer Toten in einer Geheimkammer geteilt hatte? Warum wollte er
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