Schwarz auf Rot
schicht gab, die sich mit ihrer eigenen Kultur identifizi e ren wollte. China war nicht läng er eine Gesellschaft des utopischen Egalitarismus wie noch unter Mao.
Unter den vielen auf seinem Schreibtisch verstreuten Papieren zog er die Broschüre des städtischen Wo h nungsamts hervor. Er schlug die letzte Rubrik auf, wo frei gewordener Wohnraum aufgelistet war, der neu zur Verteilung anstand.
Die Zuteilung von Wohnungen war ein heikles Th e ma. Wegen des akuten Wohnungsmangels mußten die Bezieher neuer Apartments ihre alten Wohnungen an das Amt zurückgeben. Meist handelte es sich dabei um ei n zelne Zimmer, mehr Allzweckräume denn Apartments. Und natürlich waren sie kleiner und schäbiger als die Neubauten. Dennoch standen sie zur Neuvermietung zur Verfügung. Aber jemand, der ganz oben auf den Wartel i sten der Behörden stand, wie etwa Hauptwachtmeister Yu, wäre an solch abgewohnten Räumen ohne Bad und eigener Küche wohl kaum interessiert.
Chen wollte sehen, ob eine dieser Unterkünfte auf dem Gelände lag, das für das New-World-Projekt vorgesehen war, und fand zu seiner Freude auch eine. Noch dazu bestand sie aus eineinhalb Zimmern, die im umgebauten Haupttrakt eines shikumen lagen und Blick auf den Hof hatten. Der Vormieter hatte den Raum unterteilt, so daß ein zusätzliches kleines Zimmer entstanden war, in das gerade ein einzelnes Bett paßte. Und es gab noch einen weiteren Pluspunkt. Die in den dreißiger Jahren erbauten shikumen -Häuser hatten keine Wasserklosetts; der Nach t topf war also noch immer ein notwendiges Übel. Doch der Vormieter hatte eine Art elektrische Toilette einba u en lassen. Die war zwar nicht so gut wie ein richtiges Wasserklosett, ersparte aber dem Bewohner die Mühe, jeden Morgen den Nachttopf zu leeren und zu säubern.
Sofort rief er beim städtischen Wohnungsamt an. Der stellvertretende Direktor des Komitees bestätigte, daß diese Räume noch verfügbar seien.
»Für Sie können wir sie selbstverständlich reservieren, Genosse Oberinspektor Chen.«
Solche altmodischen Wohnverhältnisse würden die Yus vermutlich nicht als gleichwertigen Ersatz für das verlorene Apartment in Tianling New Village ansehen, aber diese shikumen— Räume bargen Möglichkeiten, von denen nur Chen wußte. Sie lagen in jener Straße, wo der New-World-Komplex errichtet werden sollte. Der Wert der dortigen Anwesen würde rapide ansteigen, sobald der Bau genehmigt war. Und da Gu der potentielle Käufer war, würde Chen ein Wort für die Yus einlegen können. Gemäß der neuen Politik wurde die Abfindungssumme für Mieter auf der Basis des Immobilienwertes festg e setzt, oder besser noch: Der Mieter konnte eine gleic h große Wohnung in dem neuen Wohnkomplex beanspr u chen, sobald das Projekt fertig war.
Chen überlegte, ob er sich nicht auch ein Zimmer in dieser Gegend kaufen sollte, vielleicht eine bescheidene Unterkunft für seine Mutter, die sich standhaft weigerte, zu ihm zu ziehen. Das wäre immer noch besser als das Dachkämmerchen, das sie seit dreißig Jahren bewohnte. Mit dem Übersetzungshonorar, so überlegte er, wäre ihm das durchaus möglich.
Die Frage war, ob ihn das in einen Interessenskonflikt bringen würde. Doch es bestand kein Grund zur Eile, er konnte sich das in Ruhe überlegen, entscheiden würde er später.
Im Augenblick war es wichtiger, Yu zu überzeugen, ohne dabei ein Wort über das New-World-Projekt zu ve r lieren.
Vielleicht genügte ja schon eine Andeutung.
Er zündete sich eine Zigarette an und stellte sich seine Besuche bei den Yus in der neuen Wohnung vor; sie würden in dem malerischen Innenhof bei einer Schale Drachenbrunnentee Go spielen. Nachbarn würden im Hintergrund ihren Tätigkeiten nachgehen, wie das trad i tionelle Bild es verlangte. Diese Vorstellungen bildeten einen angenehmen Kontrast zu seiner eigenen Wohns i tuation, wo es, wenn überhaupt, nur eilige, unpersönliche Begegnungen auf der Treppe oder in den schmalen Gä n gen gab. Man identifizierte die Mitbewohner nach Nu m mern: Apartment 12, Apartment 35, Apartment 26.
Er überlegte, ob der Text der Projektbeschreibung ihn beeinflußt hatte. Denkbar war das schon. Die Menschen wurden von Büchern, Filmen, Schlagern, Sprichwörtern beeinflußt, warum nicht auch von einem Projektentwurf, der die Architekturgeschichte der Stadt aufgriff. Er war da keine Ausnahme.
In diesem Moment tauchte, wie eine Geisterersche i nung, Parteisekretär Li in seinem Büro auf.
»Wie schön, daß Sie schon
Weitere Kostenlose Bücher