Schwarz auf Rot
Sohn.«
»Nicht ich, sondern dieser Herr Gu. Ich habe lediglich eine Übersetzung für ihn gemacht.«
»Wirklich!« Das schien ihre Laune zu heben, und sie sagte amüsiert: »Vermutlich bin ich zu alt, um die heut i ge Welt zu verstehen, aber seit wann hast du eine Sekr e tärin, die bei dir zu Hause arbeitet?«
»Sie ist keine wirkliche Sekretärin.« Er hatte diese Frage seiner Mutter vorausgesehen. In ihren Augen hatte er sich bereits weit von den Grundsätzen seines Vaters entfernt. Die Nachricht von seiner »kleinen Sekretärin« würde sie in dieser Meinung nur bestärken.
»Sie ist nur eine zeitweilige Assistentin, die mir bei dem Übersetzungsprojekt geholfen hat.«
»Sie ist jung und klug«, entgegnete seine Mutter. »Und sie kocht sehr leckere Hühnersuppe.«
»Ja, sie ist vielseitig begabt.« Er bezweifelte, daß diese Suppe in Weißer Wolkes Küche entstanden war. Vermu t lich hatte sie mit Gus Geld in einem Restaurant eing e kauft. Aber er wollte seiner Mutter ihren Glauben nicht nehmen.
»Und sie studiert an der Universität. Sie findet deine Arbeit sehr interessant, hat sie mir erzählt.«
Er merkte, daß seine Mutter wieder einmal in eine b e stimmte Richtung dachte, und das war kaum verwunde r lich. »Ja, sie studiert an der Fudan«, sagte Chen. Natü r lich verschwieg er, daß er Weiße Wolke als K-Mädel in einem Separee des Dynasty Club kennengelernt hatte.
Zu seinem Glück war seine Mutter noch zu schwach, um das Thema weiter zu vertiefen. Also ließ er die Sache auf sich beruhen. Wenn sie sich unbedingt Hoffnungen machen wollte, zumal in ihrem geschwächten Zustand, dann sollte sie das ruhig tun.
Trotz des Einflusses seines verstorbenen Vaters war kein Konfuzianer aus ihm geworden. Wie viele Angeh ö rige seiner Generation war Chen überzeugt, daß die ko n fuzian i sche Lehre in der chinesischen Kulturgeschichte mehr Probleme hervorgebracht als gelöst hatte. Die So h nespflicht jedoch hielt der Oberinspektor für ein Gebot der menschlichen Natur. Das mindeste, was ein Mensch tun konnte, war, für seine Eltern zu sorgen und sie mö g lichst glücklich zu machen.
Er schauderte bei dem Gedanken an Leute, die sich weigerten, für ihre Eltern die Vorauszahlung für das Krankenhaus zu leisten, oder auch an jene, die dazu nicht in der Lage waren, wofür sie natürlich nichts konnten. Genau betrachtet war Chen ja auch bloß wegen seines Status als Parteikader imstande, dies zu tun.
Eines Tages würde er seine Mutter auch zur glückl i chen Schwiegermutter machen, aber momentan mußte er alles tun, um seiner Stellung als Polizeioberinspektor gerecht zu werden. Innerhalb des konfuzianischen We r tesystems war die Verantwortung gegenüber dem Staat höher zu bewerten als die gegenüber der Familie.
Weiße Wolke war, wie er seiner Mutter wahrheitsg e mäß berichtet hatte, nur eine zeitweilige Assistentin. Er wußte nicht, ob sich ihre Wege jemals wieder kreuzen würden. Und auch bei Herrn Gu konnte man das nicht mit Sicherheit sagen. Das brachte ihm einige Gedichtze i len in den Sinn:
Sacht gehe ich, s o wie ich sacht gekommen war; i ch wi n ke sacht d en Wolken des Abendhimmels zum A b schied
Still gehe ich,… n ehme keine Wolke mit.
Er hatte geglaubt, dieses Gedicht von Xu Zhimo längst vergessen zu haben, und fragte sich, ob es ihm wegen ihres Namens wieder eingefallen war. Oder hatte das vielleicht andere Gründe?
22
Yu wurde vom Klingeln des Telefons geweckt.
Am anderen Ende der Leitung teilte ihm Chen mit: »Bao w ohnt in der Jungong Lu 361, erster Stock. Das ist im Stadtteil Yangpu.«
»Wie haben Sie denn das rausgekriegt?« fragte Yu.
»Durch meine Kontakte«, erwiderte Chen auswe i chend.
Sein Boß klang, als wolle er nicht weiter ins Detail gehen. Yu verstand das.
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, fuhr Chen fort. »Und kein Wort zum Alten Liang oder sonst jemandem. Treffen Sie mich dort.«
Das kam überraschend für Yu. Bisher war Chen i m mer im Hintergrund geblieben. Als Yu an der Kreuzung Jungong Lu eintraf, stand der Oberinspektor schon da und rauchte eine Zigarette.
Vor 1949 war das hier ein Slum gewesen. Anfang der fünfziger Jahre hatte man Arbeitersiedlungen errichtet, um die Überlegenheit des sozialistischen Systems zu d e monstrieren. Doch seither, während eine politische B e wegung nach der anderen die Stadt überrollte, war nichts mehr für dieses Viertel getan worden. Es galt daher als minderwertiges Wohngebiet, der dortige Lebensstandard lag
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