Schwarzbuch Bundeswehr - Überfordert, demoralisiert, im Stich gelassen -
Untergebenen konfrontiert. Die Abschlussprüfungen für die einzelnen Abschnitte nahmen einige Zeit in Anspruch, und so hatte man nach Durchlaufen dieser Ausbildung die Zeit der Jugend schon ein Stück hinter sich gelassen. Ein möglicher und durchaus erwünschter Nebeneffekt war, dass bei manchem militärischen Vorgesetzten während dieser Schulungen auch ein Stück Lebenserfahrung dazugekommen war.
Die Wende für diese durchaus sinnvolle Art der Ausbildung kam mit der sinkenden Geburtenrate und dem steigenden Desinteresse an einem längerfristigen Engagement bei der Bundeswehr. Plötzlich mussten elementare Lehrgänge nicht mehr mit einer Prüfung bestanden werden. Es genügte, dass man teilnahm. Der Bundeswehr begannen die militärischen Führer abhanden zu kommen, also wurden lieber schlecht ausgebildete und manchmal sogar ungeeignete Personen rekrutiert, um die sogenannte »Kopfzahl«, das heißt die Planzahl innerhalb einer vorher theoretisch festgelegten Struktur, zu erreichen. Planerfüllung wurde wichtiger als Qualität der Ausbildung und Charakterstärke beim Führen von Menschen. Bedingt durch die drastische Senkung des Durchschnittsalters von militärischen Vorgesetzten, kamen immer häufiger Klagen von Soldaten, sie hätten während des Einsatzes von heute auf morgen einen Zugführer bekommen, der frisch von Studium kam, oder einen Gruppenführer direkt von einem Laufbahnlehrgang. Solche Vorgesetzten müssen in Gefahrensituationen versagen, sie können gar nicht anders, vor allem, wenn sie noch nicht einmal das richtige Vorgehen mit ihren Männern vorher trainieren konnten.
Die schlimme Erkenntnis, welch fatale Folgen diese veränderte Form der Ausbildung zumindest begünstigt, kristallisierte sich in den letzten zwei bis drei Jahren in Afghanistan heraus. Dort trat zutage, dass viele militärische Führer, egal, welcher Dienstgradgruppe, aufgrund ihrer Ausbildung nicht in der Lage waren, adäquate Entscheidungen zu treffen, und deswegen Menschen unnötig zu Schaden kamen. Doch statt diese Entwicklung zu stoppen und zum Beispiel wieder zu richtigen Prüfungen am Ende von Lehrgängen zurückzukehren, ging man noch einen Schritt weiter in die falsche Richtung: Auf die neue Möglichkeit, einen Kurs mit »Bestanden durch Anwesenheit« abzuschließen, folgte das »Bestehen durch Handauflegen«. Diese zunächst etwas flapsig und unverständlich anmutende Formel besagt nichts anderes, als dass nun gewisse Speziallehrgänge erfolgreich abgeschlossen werden können, indem das Erreichen des Ausbildungsziels bereits durch einfaches Handauflegen auf den Kursteilnehmer erklärt wird. Ein Beispiel: Werden bei einem Spezialverband zum Erreichen der Einsatzfähigkeit zehn Kraftfahrer, zehn Funker und zehn Sanitäter benötigt – man hat sie aber kurz vor einem bereits beschlossenen Einsatz nicht oder nicht in ausreichender Anzahl –, so werden den ausgewählten Personen die benötigten Lehrgänge durch Handauflegen in direkter Folge genehmigt, durchgeführt und als bestanden erklärt. Für einen Soldaten, der das Fahren unter Gefechtsbedingungen auf diese Weise erlernt hatte und infolge des so bestandenen Kurses als einsatztauglich galt, endete der Einsatz in Afghanistan mit dem eigenen Tod und dem anderer Wageninsassen. Unerfahrenheit, ungenügende Ausbildung, feindlicher Beschuss und das daraus resultierende menschliche Fehlverhalten führten zu dieser Tragödie. Beileibe kein Einzelfall, denn unter dem Stichwort »Ausbildung vor dem Einsatz« wurde am Anfang dieses Kapitels bereits die Beschwerde aus dem Bericht des Wehrbeauftragten zitiert, dass Soldaten an ihrem Heimatort nicht mit jenen Fahrzeugen trainieren konnten, die ihnen während ihres Afghanistaneinsatzes zur Verfügung stehen würden. Erst am Einsatzort hatte man sie auf die neuen Fahrzeuge eingewiesen und direkt danach auf Patrouillenfahrt im Kriegsgebiet geschickt. Ein kurzer Vergleich macht den Irrsinn dieser Vorgehensweise deutlich: Wer würde sich, nachdem er erst vor einer Woche den Führerschein auf einem Smart bestanden hat, bei der Rallye Paris–Dakar hinter das Steuer eines hochgezüchteten Boliden setzen? Zugegeben, Vergleiche hinken und natürlich auch dieser – denn bei jener Rallye stehen die Fahrer nicht noch zusätzlich unter Beschuss.
Zurück zu weiteren Ausbildungsdefiziten, die gerade deshalb, weil die Bundeswehr sich in einem internationalen Konflikt befindet, dringend abgestellt werden müssen. Manche dieser Mängel mögen
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