Schwarzbuch Bundeswehr - Überfordert, demoralisiert, im Stich gelassen -
gegen ihre Bedürfnisse und zu ihrem Nachteil Vorhaben zur Realisierung anstehen, die den ihnen bereits jetzt zugemuteten Stress, die Gefahren für Leib und Leben und die Nichtbeachtung ihrer Anliegen noch weiter fördern werden.
7.2 Trübe Gegenwart: Tote und Skandale
Die höheren Dienstgrade in der Bundeswehr haben längst erkannt, welche Gefahren sich aus diesem Flächenbrand von inneren Kündigungen ergeben. Hier soll stellvertretend für viele Schreiben und Klagen, die diesbezüglich vorliegen, eine Beobachtung zitiert werden: »Bataillonskommandeure beanstandeten, dass viele junge Unteroffiziere und Offiziere sich nur noch so weit engagierten, wie es unbedingt erforderlich sei. Eigeninitiative und ein Blick über den Tellerrand hinaus sei bei vielen nicht mehr zu erwarten. Andere Kommandeure bezweifelten, ob alle Unteroffizier- und Feldwebelanwärter, die von den Zentren für Nachwuchsgewinnung als fachlich qualifiziert und charakterlich geeignet eingestuft würden, den tatsächlichen Ansprüchen im Truppenalltag gewachsen seien.«
Es ist gut zu erkennen, dass oftmals die Bundeswehr als Auffangbecken fungieren muss, da es im Zivilleben immer noch schlecht um einen geregelten Arbeitsmarkt bestellt ist. Zeitarbeit, Leiharbeit, »Generation Praktikum«, »Aufstocker« sind die wenig verlockende Perspektive, die viele junge Menschen eine Stellung bei der Bundeswehr der Unsicherheit in der Privatwirtschaft vorziehen lassen.
Nachwuchsgewinnung und Ausbildung
Die Auswahlkriterien sowohl für Nachwuchskräfte wie für zukünftige Führungsebenen müssen in der geplanten Berufsarmee (dazu mehr im nächsten Kapitel) völlig neu durchdacht werden. Nur so entkommt die Bundeswehr jenem Teufelskreis, der sich im Lauf der Jahrzehnte bei der Rekrutierung von Wehrpflichtigen herausgebildet hat.
Ein Negativbeispiel aus der bisherigen Praxis: Unser junger Mann von achtzehn Jahren wird eingezogen und leistet seinen Wehrdienst in einer deutschen Kaserne ab. Nach einer dreimonatigen Grundausbildung bei einer Einheit der Unterstützungskräfte bekommt er das Angebot, an einem Auslandseinsatz der Bundeswehr teilzunehmen. Er stimmt zu und wird nun einem Verband zugeteilt, der in Kürze ins Einsatzgebiet verlegt werden soll. Dort unterzieht er sich einer sogenannten Kontingentvorausbildung, die er nach insgesamt vier bis fünf Monaten Bundeswehrzugehörigkeit absolviert. Jetzt schickt man ihn als freiwillig länger Dienender für vier Monate in den Einsatz. Mit Glück kommt er nach fast einem Jahr Dienstzeit körperlich unversehrt zurück nach Deutschland – und baut erst mal seinen Urlaub ab, sofern er noch keinen genommen hatte. Im Falle, dass unser Beispielsoldat ein Grundwehrdienstleistender war, wird er danach aus der Bundeswehr entlassen, mit allen Eindrücken, die er während seines Auslandseinsatzes gewonnen hat. Sollte er ein freiwillig Wehrdienstleistender gewesen sein, muss er nach dem Urlaub zurück in den Dienstalltag mit Eindrücken, die er in seiner verbleibenden Wehrdienstzeit nicht verarbeiten wird, die sich aber nach seiner Entlassung als Wehrpflichtiger schnell zu erkennen geben werden. In beiden Fällen ist die Chance groß, dass die Eltern ihren Sohn nicht mehr wiedererkannten, als sie ihn nach seinem Bundeswehrjahr wieder bei sich hatten. In einer Unzahl von Briefen zu diesem Thema heißt es dann lapidar. »Unser knapp neunzehnjähriger Sohn ist so verstört, dass niemand mehr an ihn herankommt, auch wir nicht.«
Beim Empfänger dieser Briefe stellte sich immer drängender die Frage, ob diese Hilferufe, entgegen allen Beteuerungen und Vorschriften, eine Realität widerspiegeln, in der Grundwehrdienstleistende und auch freiwillig Wehrdienstleistende nach nicht einmal einem halben Jahr Vorbereitung in einen Kriegseinsatz geschickt wurden – und vielleicht noch werden. Eventuell aus dem einzigen Grund, dass die Planzahlen der weltweiten Bundeswehreinsätze gehalten werden können.
Im Rahmen der zukünftigen Berufsarmee werden Klagen über eine solche Praxis hoffentlich zu den absoluten Ausnahmefällen gehören. Sofern auch die Attraktivität für den Beruf eines Soldaten grundlegend verbessert würde. Nur wenn gesichert ist, dass die zukünftigen Soldaten von ihrem Dienstherrn ausreichend versorgt werden – einschließlich im Bedarfsfall der Angehörigen –, werden sich ausreichend qualifizierte Bewerber für eine Karriere bei der Bundeswehr interessieren, und sie wird nicht weiterhin trotz Berufsarmee
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