Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarze Blüte, sanfter Tod

Schwarze Blüte, sanfter Tod

Titel: Schwarze Blüte, sanfter Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
Vom Netzwerk:
der Bank lagen die Chrysanthemen, die ich zuletzt in den Händen von Keng Do-lin gesehen hatte. Pipi hätte mich einen taktlosen Barbaren geschimpft!
    Da entdeckte ich auf der anderen Seite des Weges, am Rand der Wiese, eine kleine violette Blüte, ein Unkraut vielleicht, egal, es hatte Farbe. Ich lief hinüber und pflückte es. Hielt es der Frau mit einer tiefen Verbeugung hin: »Ich bin so froh, Sie zu sehen! Bei meinem nächsten Besuch werde ich eine Orchidee in der Hand haben, für Sie. Verzeihen Sie mir ...?«
    Sie lächelte. Sah das Unkraut an, roch daran, drehte es zwischen den Fingern, und schließlich sagte sie mit einer überraschend weichen, melodischen Stimme: »Ich habe diese Blüte immer geliebt ... Wir hatten sie zwischen den Steinen, dort ...«
    Â»Aha!« machte ich.
    Â»Und kleine Palmen gab es da ... winzig klein ... so ...« Sie spreizte Daumen und Zeigefinger etwa einen Zentimeter, um es anzudeuten. »Nur die Früchte waren riesig!« Nun beschrieb sie mit den Handflächen einen Kürbis. »Schmeckten gut! Wissen Sie, das andere Essen war immer faulig. Kalt auch. Aber die Palmenfrüchte waren süß – lieben Sie auch süße Früchte?«
    Â»Ich muß es gestehen«, gab ich ahnungslos zu.
    Sie lachte schallend: »Er gesteht! Hört Ihr, Genossen, er gesteht! Er hat alles gestanden! Er liebt Blumen und süße Früchte ...«
    Sie wurde, als ob jemand das mit einem Schalter regelte, todernst und machte mich halblaut aufmerksam: »Sie müssen einen Mantel anziehen. Eine Parka. Es wird kalt. Und Da Fung kommt, der große Wind. Es kann sie krank machen, wenn Ihnen die Kälte des Nordens ins Gebein kriecht ... wie so viele ... sie liegen dort ... sehen Sie ...«
    Mit beiden Armen beschrieb sie einen Halbkreis, lachte aber dann wieder. Ihre dunklen Augen funkelten. »Da sind die Sampans auf dem Fluß ... sehen Sie, das andere Ufer ist nicht zu erkennen ... dort wohnen die Männer mit den Fellmützen ... da ... seien wir still, es kommt der ... er hat Ky in den Himmel geschickt ... das ist die Heimat der Langnasen ... sie haben sie ... ach, sie hätte das Kreuz nicht tragen dürfen ... selbst die Tiere haben die Köpfe gesenkt ... hören Sie mir zu?«
    Ich versicherte ihr schnell, daß ich das tat, und daß ich nie Schöneres gehört hatte in meinem Leben. Es war seltsam, das wirre Durcheinander dessen was sie hervorsprudelte, fesselte auf eine unerklärliche Art. Es machte beklommen. Und wenn sie lachte, wie jetzt wieder, wurde einem der Rücken kalt.
    Â»Ich bin Yü Tang Tschun! Ich bin Dschu Ying-tai, ich bin Dschao Gaos Tochter ... ich bin die Welt und die Herrin der Vögel! Sehen Sie ...!« Sie sprang auf und vollführte vor mir eine Reihe graziöser Bewegungen, spielte das Spiel der Finger, warf den Kopf in den Nacken, wie es in den alten Opern die Heldinnen zu tun pflegen, die sie genannt hatte, als ihre Inkarnationen.
    Bald rang sie nach Atem. Ließ sich wieder neben mich auf die Bank fallen und versank in stilles Brüten.
    Die violette Blüte hielt sie immer noch zwischen den Fingern.
    Eine Weile machte ich mir Gedanken über die Wirrnis, die im Hirn der Frau herrschte, wobei man ihr das nicht etwa ansah – nicht die geringste Einzelheit deutete darauf hin, sie wirkte wie die Sekretärin eines einigermaßen geschäftstüchtigen Anwalts. Wie die Gattin eines Beamten vielleicht, der jeden Morgen zur gleichen Zeit zur Arbeit aufbricht, sich mit einem Kuß verabschiedet, und am späten Nachmittag regelmäßig und pünktlich wieder zu Hause ankommt, es sei denn, der Bus hatte Verspätung.
    Den Weg entlang kam ein Paar. Vermutlich ein Mann, der seine Frau hier besuchte. Alte Leute. Beide grüßten mit betonter Freundlichkeit zu uns herüber.
    Ich erwiderte den Gruß etwas unsicher, aber ich sah, daß Yang Mou hocherfreut lächelte, sie winkte sogar, als sie zurückgrüßte. Dann versank sie wieder in den Zustand, der an die Meditation bei Gläubigen erinnert, während der die Umwelt einfach nicht existiert, was immer auch geschehen mag.
    Eigentlich hatte ich erfahren, was ich erfahren wollte. Mehr sogar. Überraschendes. Keng Do-lin hatte Miß Yang Mou, die ehemalige Freundin Ai Wus aus Shanghaier Tagen besucht, deren Leben nicht zuletzt durch Ai Wu so tragisch verlaufen war. Weil er es nicht hatte wahrhaben wollen,

Weitere Kostenlose Bücher