Schwarze Blumen auf Barnard Drei
ausgerechnet in diesem Augenblick, und bedachte, daß solche Grübchen einfach kommen mußten, wenn jemand mit einem so großen Mund lachte. Unversehens war Ana nicht mehr neben ihm. Er schaute sich um, und im Geblinker der Stationsindikatoren entdeckte er ihren giftgrünen Poncho an einem der Versorgungsautomaten. Er konnte gut über die quirlende Menge hinwegblicken, irgend etwas störte ihn an der Haltung des Mädchens. Er setzte ein, was seine Statur vermochte, und bahnte sich einen Weg dorthin. Mit unvermuteter Zartheit hob er Anas Kinn, um ihr ins Gesicht zu schauen. »Brauchst du etwas?« fragte er linkisch, als er Tränen in ihren Augen erblickte.
»Zu feige?« fragte sie ihn. »Er glaubt, ich bin zu feige?« Ana biß grimmig in einen Apfel, während noch Tränen über ihre Wangen liefen, und Boboschkin sah, wozu ihre vielen großen und gesunden Zähne taugten. Das Mädchen war noch immer bloßfüßig.
Anas Wege wurden von vielen Menschen gekreuzt, auch von Männern. Mit manchen von ihnen hatte sie ihre Erlebnisse, es blieb unersichtlich, aus welchem Fonds von Kraft und Zeit sie schöpfte. Aus diesen Affären entwickelte sich niemals eine dauerhafte Bindung, und immer war es Ana, die ihren Partner verließ. Nur Boboschkin hielt sich in ihrer Nähe, weil er nichts verlangte, und Schichow, weil er sie demütigte.
Die Begegnungen mit den Dingen und Menschen schliffen dem Spiegel, mit dem Ana ihre Bilder einfing, immer neue Facetten an. Aber dieser Spiegel unterlag auch der Korrosion. In der Art der Sujets, die aus der Werkstatt der Reis hervorgingen, traten gewisse Schnitte zutage. Plötzlich gab es große Formate, nach Metern messend: eine enorme Bildfläche mit nichts als leeren Milchflaschen ausgefüllt, aufgelaufener, sortierter, unübersehbarer Abraum des Morgens einer Stadtsektion, beklemmende Blässe der Erwartung über der Menge, eingekeilt und ein wenig schief eine einzige Flasche aus grünem Glas; Spielzeug, nach ausgeklügelten Regeln ästhetischer Geometrie auf Regale eines Kinderzimmers geordnet, unberührter Überfluß; schreiend bunte Bälle in den Strudeln eines Wehrs hüpfend, fröhlicher Übermut oder paranoischer Tanz für immer im Strom Gefangener? Bilder von Dingen als Zeugnisse menschlicher Freundlichkeit oder des Hungers nach Freundlichkeit. Bilder von Barrieren.
Später traf Ana auf die Frage nach dem künftigen Schicksal all der Gegenstände, mit denen sie sich abgab, und stieß auf Müllkippen. Fast schien es, als werfe sie der Anblick um. Aber nach einer Zeit der Erstarrung fotografierte sie wieder wie besessen. Sie kämpfte. Sie machte Serien von Bildern integralen Grauens und von hundert einzelnen Geschichten dieser verurteilten und hingeschütteten Dinge und vom Widerschein großer poetischer oder heroischer Himmel auf den Dünen, zu denen sich der Auswurf der Zivilisation häufte.
Es zog sie zu Schichow. Sie brauchte den Mann, um sich an ihm zu reiben oder weil sie den Betrieb in Schichows Labor liebte, die überraschende Weite inmitten der Wabenenge der Stadt, Schichows irrlichternde Farben, die Menschen, die dort ein und aus gingen, und den Zauber ihrer Reden und Handlungen, die sie nicht begriff.
Zwei Mädchen stoppten vor Ana. Intelligente Gesichter vor einer der durchleuchteten Blenden, die den Raum des Studios dann und wann zu Labyrinthen verschachtelten, exklusive Körper, sparsame Dessous, die nicht dazu gedacht waren, zu verhüllen.
Unter Anas musternden Blicken schaute die eine aus hochhackiger Position herab. »Prüde?« fragte sie herausfordernd.
»Prüde?« Ana trug eine Mappe bei sich, ein ziemliches Ungetüm, und sie wechselte den Griff, die Vokabel brachte sie in Verlegenheit. »Ist euch denn nicht zu kalt?«
Die Mädchen lachten, durch maskenhaftes Make-up leuchtete plötzliches Einvernehmen. »Ja wirklich«, sagte das Mädchen, »er verpulvert das ganze Kontingent für Licht. Zum Heizen bleibt nichts übrig als das rote Sperrsignal.«
»Mode?« fragte Ana.
»Heute nicht. Heute macht er Kunst aus uns.«
»Er zieht euch aus, damit mehr Mensch sichtbar wird?«
»Eine zu schwierige Frage für diese Temperatur.« Das andere Mädchen schien einem Gedanken nachzuhängen. »Sie sind die Reis, nicht wahr?« fragte sie plötzlich. »Möchten Sie nicht mal mit uns etwas machen?«
»Er verarbeitet euch zu Kunst?« fragte Ana angriffslustig. »Das kommt mir vor, als verarbeite einer eine Amati zu lauter
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