Schwarze Blumen auf Barnard Drei
ihres Interesses erschienen auf ihren Bildern in beispiellos einfältiger Sicht. Sie fotografierte Etiketten von Gemüsekonserven, Verladekrane im Leningrader Hafen, Profile von Autoreifen, immer wieder Pflanzen und Tiere, Teppich- und Strickmuster, gestapeltes Halbzeug, Küchenmixer, Brücken, den Rohrofen eines Zementwerks, Hüte, Puppen, Werkzeugmaschinen. Man sah ihren Arbeiten an, mit welch hingebender Gründlichkeit sie diese Dinge betrachtet, befühlt und bedacht haben mochte, und fand nicht die Spur einer Wertung.
Nun waren aber alle diese Bilder ästhetisch und keineswegs informativ engagiert, aus Gründen, von denen Ana selbst kaum etwas wissen mochte, und da die Fotografin von der Qualität ihrer Arbeit überzeugt war und sie ihre Produktionen gern jedermann zeigte, gelangten sie bald vor Augen, die hinzusehen verstanden. Indessen war man gewohnt, mit künstlerischer Absicht erzeugte Fotos danach zu beurteilen, durch welche Ideen, wie und mit welchen Mitteln das Bild den Gegenstand verfremdet wiedergab, um dem Foto Kraft und Ausdruck zu verleihen, die das Bild vor der Wirklichkeit rechtfertigten. Es war die völlige Abwesenheit des Erwarteten, eben einer solchen Rechtfertigung, durch die die Arbeiten der Reis auffielen.
Wenn es auch genug Leute gab, die meinten, in der zur Schau gestellten Naivität sei nur irgendeine Gerissenheit zu sehen, ein besonders raffinierter Verfremdungstrick, auf den man immerhin erst kommen mußte, erregte, was die Reis vorwies, Befremden, Verwunderung und Betroffenheit, endlich das Gefühl, etwas Neuem, Kräftigem, einem Vorstoß zu begegnen. Und es war tatsächlich so: Die Bilder rührten an.
Ana arbeitete sechzehn Stunden am Tag, und nach einem Jahr durchstieß ihr Ruf die Grenzen des Rayons. Ihr Name tauchte auf Ausstellungen in Paris, Kiew, Nagasaki, im exklusiven Baltimor Exhibitions Center und in der Biennale Tunis fotokine auf. Ana geriet in die Wirren der Kritik.
Noch vor dieser Zeit, als sie eben begann, in Leningrad bemerkt zu werden, traf sie auf Anatoli Boboschkin, einen großen, schweren und rotgesichtigen Mann, der in der Filmbranche einen Namen hatte; oder vielmehr hatte Boboschkin die Bekanntschaft Anas gesucht und auch leicht gefunden, und man konnte die beiden ungleichen Figuren fortan oft auf den Straßen der Stadt zusammen gehen sehen. Boboschkin hatte genau das Format, um filmische Völkerscharen in Bewegung zu setzen, und zwar in Richtungen, die nur er bestimmte. Aber wer die beiden
beobachten mochte, hatte diesen Eindruck nicht. Boboschkin ging seitwärts
geneigten Hauptes, still und aufmerksam auf die kleine Person hinabschauend, während er die Hände auf dem Rücken verschränkte.
Es war oft von gemeinsamen Gegenständen ihrer Branche, vom Bildermachen, die Rede, was nahelag. »Sehen Sie nur, wie er sich freut«, sagte Ana lebhaft, sie wies auf ein Hündchen, das im Aufgang der Metro dem Tageslicht entgegensprang. »Sie haben mit Schichow gesprochen? Wir fahren bis zur dritten Metrostation und versuchen von dort aus ins Zentrum zu kommen. Einverstanden? Ich kenne ihn ganz gut und habe schon viele seiner Bilder gesehen. Er liebt Farben.«
Eis gelang ihnen, zusammen eine Stufe der Rolltreppe zu erwischen. »Warum schweigen Sie?« fragte Ana, »erzählen Sie mir von Schichow. Er steuert die Komposition der Farben mit zwei voneinander unabhängigen Computern, und ich glaube, seine Rechner wissen, was Leidenschaft ist. So antworten Sie doch! Es geht ihm nicht gut, nicht wahr?« Boboschkin schaute auf Ana hinab und schwieg.
»Schichows Bilder sind wie Feuer aus Eis. Ich muß sie immer wieder anschauen. Sie verführen. Sie verführen dazu, ein Geheimnis zu lüften, das in ihnen steckt. Und immer bin ich ein bißchen ratlos, wo ich suchen soll«, sagte sie.
Voraus ratterte eine Treppenweiche. Ana raffte die Zipfel ihres Ponchos zu einem Knoten zusammen. »Spüren Sie das auch?« schrie sie, um das Getöse der Rollen zu übertönen.
»Was denn?« schrie Boboschkin zurück.
»Daß er etwas in seinen Bildern verbirgt. Vielleicht das Wichtigste.«
»Nein.«
»Nicht?« Der blecherne Lärm lag schon hinter ihnen, aber die Treppe teilte sich gleich noch einmal. »Hören Sie, Anatoli«, schrie Ana, »bewegt Sie nicht, was der Mann schafft? Und ich glaube, es geht ihm nicht gut.«
»Ich denke, Sie erwarten zuviel«, antwortete Boboschkin. »Schichow hat einige Ihrer Arbeiten gesehen.«
»Aber er
Weitere Kostenlose Bücher