Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
festgestellt, dass es etwas gab, das sie vermisste. Vielleicht war es albern und banal, doch sie kam nicht mehr davon los. Sie wollte ein Buch: ein bestimmtes Buch. Eine einfache Geschichte aus ihrer Kindheit, die ihr Vater ihr zu Hannahs größter Freude immer wieder vorgelesen hatte. Es erinnerte sie an seine ruhige Stimme und den sauberen, markanten Geruch seines Aftershave. Und sie wollte diese Erinnerungen. Das war doch in Ordnung, oder? Selbstverständlich.
Nur dass sie es nicht finden konnte.
Und da stimmte etwas nicht. All die anderen Bücher, an die sie sich erinnerte, standen auf dem Regal, selbst diejenigen, die nicht zu ihren Lieblingsbüchern gehörten und die sie kaum gelesen hatte. Es befanden sich so alte darunter, mit derart blank gewetzten Rücken, so dass sie an Zweige erinnerten, an denen ein Kind versucht hatte, mit einem Taschenmesser die Rinde abzuschälen. Doch das Buch, nach dem sie suchte, fehlte. Zunächst hatte sie einfach nur die Augen danach aufgehalten, doch irgendwann war die Stimmung umgeschlagen, und sie wollte – musste – es unbedingt finden und lesen.
Dann vielleicht der Speicher.
Im Unterschied zum übrigen Haus war er nur notdürftig ausgebaut: gerade mal Bretter auf dem Boden, eine nackte Glühbirne installiert, deren Schnur in Spinnweben gehüllt war. Das Licht war matt, in der Farbe von Butter, und es roch nach unbehandeltem Holz. An der Rückseite hatte sie mit Klebeband verschlossene Kartons entdeckt und mit ihrem Schlüssel einfach aufgeschlitzt.
In den Kartons befanden sich ungeordnet Hunderte weiterer Bücher. Hannah hatte sich im Schneidersitz auf den verstaubten Boden gesetzt und, von Schwindel erfüllt, so hoch über den leeren Stockwerken unter ihr, jeden Karton systematisch durchsucht.
Ihr Buch war immer noch nicht dabei gewesen. Doch das trat in den Hintergrund, als sie in der letzten Kiste diese alte Tragetasche mit den Dingen fand, die ihr Vater darin versteckt hatte.
Der Beutel lag – inzwischen leer – unter dem Schreibtisch, doch er war so alt, dass er, als sie ihn dorthin warf, wie ein riesiges Stück zerknülltes Papier seine Form beibehielt. Ab und zu raschelte er, wenn er sich ein wenig glättete. Sie konnte sich vorstellen, wie er das auch in ihrer Abwesenheit tat und das leere Haus mit einem kurzen, deutlichen Geräusch erfüllte – die ersten, stockenden Atemzüge von etwas, das gerade aus dem Winterschlaf erwachte.
Die beiden Gegenstände, die sie in dem Beutel gefunden hatte, lagen jetzt vor ihr auf dem Schreibtisch.
Als Erstes eine gefaltete Landkarte der Grafschaft Huntington, die sie ausgebreitet hatte. Im Gegensatz zu der Tragetasche hatte sie die Neigung, sich immer wieder zusammenzufalten. Hannah legte beide Hände auf die Ränder, um sie flach auszubreiten. Das Alter war deutlich an den ausgefransten Stellen zu erkennen, die sich überall gebildet hatten, wo zwei Falten sich kreuzten. Hier und da waren die Adern und feinen Kapillargefäße von Huntington verblasst, an anderen völlig abgewetzt. Dagegen war das, was ihr Vater in die Karte eingetragen hatte, noch deutlich zu erkennen.
Fünf winzige rote Kreuze.
Eines befand sich genau in der Mitte einer Wohnstraße. Mulberry Avenue. Das zweite an einer Seite des Whitkirk Park. Ein drittes markierte Blair Rocks, jenen kleinen, kahlen Picknickplatz, der wie ein Schandfleck am Waldrand lag. Das vierte hob eine Stelle nahe einem baufälligen, alten Cottage nicht weit davon entfernt hervor – wiederum am Wald. Doch das größte – sogar mit einem zusätzlichen Kreis versehen – befand sich noch ein Stück tiefer in demselben Wald. Direkt auf dem Viadukt.
Schon für sich genommen wirkte die Karte unheilvoll, doch der zweite Fund machte alles nur noch schlimmer. Er hatte ihn in einen eigenen Beutel gepackt, als wollte er das Beweismaterial, das er darin eingewickelt hatte, sicher aufbewahren. Sie hatte ihn nicht geöffnet, weil es sich erübrigte. Selbst durch das Plastik hindurch war der Gegenstand darin mühelos zu erkennen.
Ein Hammer.
Du hast hier ein riesengroßes Problem, Hannah.
O ja, allerdings. Denn sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie auf dem Dachboden ihres Vaters Beweismaterial eines Verbrechens gefunden hatte. Vielleicht sogar eines ganz furchtbaren Verbrechens. Eines Verbrechens, das ihr Vater nicht aufgeklärt, sondern verschleiert hatte.
Vielleicht sogar selbst begangen hatte.
Hannah strich mit der Fingerspitze über die Kreuze und bildete
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