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Schwarze Küsse

Schwarze Küsse

Titel: Schwarze Küsse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joaquín Guerrero-Casasola
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und erinnerte mich an diese Schiffe, die in der Ferne vorbeifahren und brüllen, als ob sie großen Kummer hätten. Man sieht sie vom Hafen aus und möchte in einem Meer aus Trostlosigkeit versinken.
    Ich stellte mir den Therapeuten mit kleinen Brillengläsern und krausem, tabakfarbenem Haar mit goldenen Strähnchen vor, der intellektuelle Typ. Karierte Weste, weißes, sündhaft teures Hemd. Vielleicht einer dieser Juden, die viel vom Holocaust zu erzählen haben.
    Ich war eifersüchtig.
    Sie hatte immer noch die Hand ausgestreckt. Mein inneres Kind tobte. Sie machte es sich leicht, indem sie mich bat, den Jungen zu vergessen. Klar, er war ein sehr kleiner Mensch, der kaum existierte. Er konnte nicht einmal sprechen, zeigte noch keine Persönlichkeit. Aber es gelang mir nicht, mein Gehirn an der Nase herumzuführen. Es war eine grausame Bitte, ihn aus meinen Gedanken zu löschen. Ich konnte nicht einfach einen mentalen Radiergummi nehmen und den Körper des kleinen Kerlchens ausradieren. Oder ihn auf Naziart in einer mentalen Gaskammer vergasen. Saúl existierte. Ich hatte ihn mit eigenen Augen gesehen. Und sie, die Frau, die vor mir stand, hatte gesagt, er sei von mir. Ohne DNA-Beweis, ohne dass ich sie vorher schwanger gesehen hätte. Sie hatte nicht gesagt, dass ich ihn lieben sollte. Vater sein oder nicht Vater sein – to be or not to be – das ist die Hölle.
    »Adiós, mein Freund.« Teresa schlang die Arme um mich und vermied es dabei, mich mit ihren runden Brüsten zu berühren.
    »Sei glücklich«, sagte ich.
    »Du auch.« Sie legte wieder ihren Kopf unter meinen Hals.
    Hinter der Bank war eine Hecke, und dahinter eine Fläche mit dichtem, ungemähtem Gras. Neuerdings sahen alle Grünflächen der Stadt so aus, sie wurden einfach nicht mehr gepflegt. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dankbar dafür sein würde. Schnell wagte ich zwei halsbrecherische Bewegungen. In der ersten packte ich Teresa Sábato an den Haaren in ihrem Nacken, in der zweiten warf ich mich mit ihr hinter die Hecke. Sie versuchte, sich zu widersetzen, aber ich nahm es nicht als Zurückweisung, sondern als Angst vor dem Aufprall. Und der kam. Sie schlug so hart auf dem Rücken auf, dass sie heftig die Luft ausstieß, und diese Luft strömte in mein Gesicht, das dem ihren nahe war. Diese intime, lauwarme Luft machte mich verrückt, ich küsste sie rasend vor Leidenschaft, tastete mich mit meiner Zunge bis zu ihren Weisheitszähnen vor.
    Teresa drehte sich zur Seite und wich meinem Mund aus, aber ich nahm es nicht als Zurückweisung, sie sah nur nach, ob uns jemand beobachtete.
    Ich hätte alles darum gegeben, Gelächter zu hören, oder ein Husten. Irgendetwas, das in der Lage gewesen wäre, mich zu bremsen. Die Tomografie von meinem Schädel hatte nicht gelogen, mein Hirn bestand aus nichts als weißem Nebel. Und der Klimawandel hatte sich noch nicht auf den primitiven Paarungstrieb des Menschen ausgewirkt. Wir trieben es am helllichten Mittag; an ihrem zartrosa Slip vorbei, durch meinen Reißverschluss hindurch, dessen Metallzähne mir in die Haut schnitten.
    Ich dachte an Arturito und seine Puppe, dachte, dass ich dabei war, meiner eigenen Puppe mit jedem begierigen Stoß die Luft herauszupressen. Die Blumenuhr zeigte 12.35 Uhr an einem Septembertag.
     
    So ist die Stadt. Geburt und Tod passieren in ein und demselben Moment.
    Es war nicht das erste Mal, dass ich mir Fotos von toten Menschen ansah. Aber die, die mir Wintilo in seinem Wagen zeigte, waren so ekelerregend, dass sie Brechanfälle bei mir auslösten. Ich sprang aus dem Auto, um neben den Wurzeln eines Gummibaums, der rein gar nichts dafür konnte, meinen Magen zu entleeren. Die frische Luft brachte mich ins Leben zurück.
    »Damit du mal siehst, zu was diese Stricher fähig sind, wenn sie brünstig sind.« Wintilo stand hinter mir und bot mir über meine Schulter hinweg Pfefferminzbonbons an.
    Gewisse private Erinnerungen würde man gerne vor den Vulgaritäten des Lebens bewahren, aber just in diesem Moment wanderten meine Gedanken zurück ins Gras. Zurück zu Teresa, die mir einen Finger an die Lippen hielt, als ich ihr etwas sagen wollte; die aufstand und davonging, während sie sich den Rock zurechtzog; die krumm lief, weil sie die Schuhe noch nicht richtig anhatte. Mit zerzausten Haaren. Erdrückt, verwirrt, überwältigt. Genau wie ich, der ich dort auf dem Rücken lag und die launenhaften Wolken am Himmel betrachtete, die wie Papierknäuel durch die Luft

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