Schwarze Küsse
Mutter wer weiß was für Pillen genommen hatte? Der die Sekundärschule abbrach, als sein Vater starb, und in einer Lösungsmittelfabrik arbeitete, wo er sich später die Kehle verätzte? Vier verdammte Operationen später klang seine Stimme immer noch wie die eines kleinen Mädchens.«
Ich nickte.
»Ich traf ihn beim Militärdienst wieder. Der Scheißkerl war zwar verrückt und hatte zu kurze Arme, aber das Selbstvertrauen hatte er deshalb nicht verloren. Ihm gefiel der Gedanke, den Zinnsoldaten zu spielen, dabei konnte er nicht einmal ein Gewehr halten. Eines Tages befahl ihm ein Oberst namens Bedoya oder Claraboya, ich erinnere mich nicht mehr genau an den Namen dieses Arschlochs, das Gewehr auf die vorgeschriebene Höhe zu heben. Das verlangte er nur, um Atún zu ärgern, denn wenn wir mal ehrlich sind, Gil Baleares, konnte Atún weder das Gewehr auf die vorgeschriebene Höhe halten, noch würde man ihn jemals in einen Krieg schicken. Es sei denn, man hätte den Feind zum Lachen und damit aus dem Konzept bringen wollen …«
Das Auto bog in eine unasphaltierte Straße ein und holperte über einige größere Steine. Im Kofferraum war ein deutliches Wimmern zu hören.
»Gibst du mir mein Schneewittchen rüber?«
Ich reichte ihm erneut die Tüte, und er vergrub wieder die Nase darin und atmete tief ein. Dieses Mal hustete er und bekam die gleichen Herzinfarkt-Augen wie Pater Pila. Ich beschloss, ihm die Tüte nicht mehr zu geben, wenn er mich das nächste Mal darum bat, aber das war auch nicht nötig. Die Tüte war leer. Wintilo leckte sie aus und warf sie aus dem Fenster.
»Oberst Bedoya oder Mamadoya beschimpfte Atún vor der versammelten Rekrutentruppe. Er nannte ihn einen Hanswurst, gab ihm Spitznamen wie Walross oder Flipper und löcherte ihn mit unangenehmen Fragen. Eine davon war nicht ganz aus der Luft gegriffen: Wie er sich den Hintern abwischte, wenn ihm die Hände kaum bis zur Brust reichten? Ich muss gestehen, Kumpel, dass Bedoya nicht der Einzige war, der lachte. Hättest du gelacht?«
»Ich glaube schon, aber nur aus dem ersten Impuls heraus.«
»Es erleichtert mich, das zu hören, denn auch ich hatte einen gewaltigen ersten Impuls: Ich lachte, bis ich keine Luft mehr bekam. Aber was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass Bedoya Atún vom Militärdienst ausschloss, weil er das Gewehr nicht auf die vorgeschriebene Höhe halten konnte? Jahre später traf ich ihn wieder, er arbeitete inzwischen als Polizist in der Metro. Wir gingen zusammen auf ein paar Drinks, und er erzählte mir, dass seine Schwester einen unglaublich wichtigen Typen geheiratet habe, der ihm geholfen habe, diesen Job zu bekommen. Laut Atún konnte er mich genauso aus der Scheiße ziehen. Errätst du, wer dieser Typ war? Soll ich dir einen Tipp geben?«
»Aníbal Carcaño?«
Auf Wintilos Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Mitten im Nirgendwo hielt er das Auto an.
»Die Natur ist ungerechter als George Bush, Alter … Wusstest du, dass die Schwester von Atún das hübscheste Mädchen weit und breit war? Und dann schau dir ihren Bruder an, völlig entstellt.«
»Die, die wir im McDonalds gesehen haben, die Frau von Carcaño? So hübsch fand ich die nicht.«
»Wir werden alle nicht schöner mit den Jahren.«
Wir stiegen aus dem Auto. Die saubere Landluft brachte Wintilo zum Husten. Geräuschvoll zog er den Schleim hoch und spuckte ihn aus. Danach öffnete er den Kofferraum, in dem sich ein menschliches Bündel zu bewegen begann. Es hatte Klebeband über dem Mund und an den Händen. Erst sah es aus wie eine Frau, aber als es sich ein wenig aufgerichtet hatte, erkannte ich, dass es sich um einen Mann in Frauenkleidung handelte. Wintilo zog ihn an einem Arm heraus und ließ ihn auf den Boden fallen, wo er mit der Wange aufschlug und ein unterdrücktes Stöhnen ausstieß.
»Wer ist das?«, fragte ich.
Wintilo zog eine Taschenlampe hervor und richtete sie auf das Bündel, ließ sie über seinen Körper schweifen. Der Mann trug einen Minirock und hohe Pfennigabsätze. Schließlich blieb der Lichtstrahl auf einem Gesicht mit entsetzt aufgerissenen Augen und blonder Perücke stehen.
»Fessle mir die Hände«, befahl Wintilo und gab mir eine Rolle Klebeband.
Es war das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass mich jemand darum bat.
»Fessle sie mir!«
»Wozu?«
»Tu’s einfach!«
Aus reiner Neugierde gehorchte ich. Sobald seine Hände gefesselt waren, forderte er mich auf, dem Mann beim Aufstehen zu helfen. Ich
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