Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
ausgestreckter Daumen unter den schmalen Ärmelbund des Kleides schob und zart über ihren Puls strich. Es war ein seltsames Gefühl, das ihr einen leisen Schauer über den Rücken rieseln ließ.
„Aber nein“, sagte sie, um ein Lächeln bemüht. „Ich war nur etwas müde, das ist alles.“
Es war nicht einfach, ihre Hand wieder freizubekommen, denn Mr. Parker hielt sie mit großer Energie fest und ließ seine Beute erst los, als Mr. Barney sich erhob, um Violet seinerseits zu begrüßen.
Mr. Barney war wohl die ungewöhnlichste Erscheinung unter Grace‘ Kunden. Er war ein wenig kleiner als der drahtige Parker und vermutlich unter seinem leicht zerschlissenen grauen Anzug spindeldürr. Dennoch war er sehr eitel, denn er färbte sein bereits ergrautes Haar sorgfältig mit irgendeinem Mittelchen, wodurch es einen undefinierbar braun-gelblichen Farbton angenommen hatte, der an ein vergilbtes Mausefell erinnerte. Sein Gesicht war schmal und voller Narben, und die runde, goldgeränderte Brille ließ seine braunen Augen sehr groß und etwas kindlich erscheinen.
„Meine liebe Violet“, sagte er und verzog den Mund zu einem vielsagenden Lächeln. „Ich habe Neuigkeiten für Sie. Sie werden staunen.“
„Da bin ich gespannt“, gab Violet höflich zurück. „Darf ich raten? Sie haben ein weiteres Kapitel vollendet.“
Mr. Barney nickte und griff in die Innentasche seiner Jacke, um die dort steckenden Papiere hervor zu ziehen.
„Großer Gott!“, rief Mr. Parker ärgerlich und hob die Arme theatralisch zur Zimmerdecke. „Sie werden uns doch wohl jetzt nicht Ihren Roman vorlesen wollen!“
„Warum nicht?“, fragte Barney, der immer noch in seiner Jacke herumfingerte und nach den Blättern forschte. „Was ist dagegen einzuwenden, Mr. Parker?“
Parker warf ihm einen düsteren Blick zu.
„Was dagegen einzuwenden wäre? Das will ich Ihnen sagen. Ich bin nicht bereit, mir diesen angenehmen Abend in Miss Violets Gesellschaft durch eine weitere Ihrer langweiligen Geschichten verderben zu lassen.“
„Langweilig, Mr. Parker“, empörte sich Barney und zog entschlossen ein zusammengefaltetes Blatt aus der Jacke. Es entpuppte sich jedoch als eine Caféhausrechnung und er steckte es wieder ein. „Meine Geschichten sind aus dem Leben gegriffen. Wenn Sie sie langweilig finden, dann erkennen Sie das wahre Wesen unserer Existenz nicht.“
„Bitte, meine Herren“, versuchte Violet die Streitenden zu besänftigen, „wir werden eine Lösung finden, bei der jeder von Ihnen zu seinem Recht kommt.“
„Humbug!“, rief Parker laut in Barneys Richtung ohne Violets Bitte zu beachten. „Sie schreiben doch immer das Gleiche, Barney. Armer junger Mann verfällt den Banden der Liebe, doch die Angebetete darf ihn nicht heiraten, und nimmt einen anderen. Worauf der junge Mann sich selbst entleibt. Was soll daran aus dem Leben gegriffen sein? Bringt etwa jeder abgelehnte Verehrer sich aus Liebeskummer gleich um die Ecke? Dann wäre London vermutlich um Zigtausende männlicher Einwohner ärmer.“
„Sie verstehen gar nichts“, widersprach Barney beleidigt und schob sich die Brille zurecht, die beim aufgeregten Suchen herabgerutscht war. „Es geht um das Prinzip einer edlen und reinen Liebe und um die Treue über den Tod hinaus.“
Parkers Gesicht verzog sich jetzt um ein hämisches Grinsen, das er sofort einstellte, als er Violets verstörten Blick bemerkte.
„Die edle und reine Liebe. Du lieber Himmel“, brummte Parker und ließ den Blick durch Grace‘ Salon schweifen. „Meinen Sie nicht, dass der Ort für Ihre Lesung da etwas unpassend gewählt ist?“
Barneys Antwort ging in Klavierklängen unter, denn Violet hatte beschlossen, dem Wortwechsel durch ein wenig Musik ein Ende zu bereiten. Während Barney weiter ungeduldig in seiner Jackentasche suchte und nach zwei zerknitterten Briefen und einer Fahrkarte der Londoner Stadtbahn endlich das Manuskript zutage förderte, hatte Parker sich rasch einen Stuhl an Violets Seite geschoben, um ihr beim Umblättern der Noten behilflich zu sein. Er sorgte dafür, dass sein Knie leicht gegen ihr linkes Bein drückte und wenn er sich erhob, um das Notenblatt zu fassen, legte er wie zufällig die Hand auf ihre Schulter. Wobei er sich bemühte, die bloße Haut in ihrem Nacken mit den Fingerspitzen zu streicheln.
Grace erschien wenige Minuten später im Salon, perfekt gekleidet und frisiert, nur die leicht geröteten Wangen deuteten darauf hin, dass sie eine gewisse
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