Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
saß in steifer Haltung auf dem Sitz, hatte den Zylinderhut tief in die Stirn geschoben, und sie konnte nicht viel mehr von seinem Gesicht erkennen als die scharfe geschnittene Nase und die kantige Kinnpartie. Scheinbar hatte er wenig Lust, die üblichen Verhaltensmaßregeln anzukündigen – vielleicht, weil er glaubte, sie habe ihre Rolle inzwischen gelernt.
Es dauerte eine kleine Weile, bis die Kutsche vor einem der Eingänge des Theaters vorfahren konnte, denn sie mussten warten, bis die Ladies und Gentlemen, die vor ihnen angekommen waren, aus ihren Wagen gestiegen waren. Als der Kutscher endlich den Schlag öffnete, drehte Marlow kurz den Kopf zu ihr herum und zog die Augenbrauen in die Höhe - die stumme Geste bedeutete nichts weiter als: Das Spiel beginnt.
Wie üblich verwandelte er sich auf der Stelle in den freundlich-besorgten Onkel, hielt ihre Hand, während sie aus der Kutsche stieg, spannte einen Schirm auf, um sie auf dem kurzen Weg bis zu dem hohen Säulenvorbau des Theaters vor dem Regen zu schützen.
Violet war überwältigt von der verschwenderischen Pracht, mit dem das Theater ausgestattet war. Unzählige Gaskandelaber und Wandlüster erzeugten eine geradezu unglaubliche Helligkeit, ließen den Goldstuck und die Seidentapeten im Foyer glänzen und setzten die Abendroben der Damen ins rechte Licht. Die Kleider erschienen ihr wie eine große Sinfonie aus bunten Farben, gerafften Spitzen, eng geschnürten Taillen und glitzernden Besätzen. Dazwischen flanierten Herren in eleganten, dunklen Anzügen mit blütenweißen Westen, die scheinbar nur anwesend waren, um die Abendtoiletten ihrer Damen vorzuführen, denn sie selbst machten sich zwischen all den aufwendigen, farbenfrohen Kleidern eher schlicht aus.
Marlow hatte rasch einige seiner Bekannten ausgemacht und die übliche Zeremonie des Begrüßens und Vorstellens begann. Zu ihrer eigenen Überraschung gelang es Violet sehr schnell, ihre Befangenheit abzuschütteln und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie erinnerte sich mühelos an diejenigen von Marlows Bekannten, denen sie schon einmal vorgestellt worden war, knüpfte an Gespräche an, fragte nach dem Befinden des Bruders, der Tochter, der Tante und erntete entzückte Blicke.
„Was für ein bezauberndes Mädchen. Wir geben im Dezember einen Ball, lieber Nicholas. Sie dürfen ihn auf keinen Fall verpassen. Und bitte bringen Sie Violet mit.“
„Sehr gern. Natürlich nur, wenn sie zu dieser Zeit noch in London ist.“
„Aber Sie werden doch nicht abreisen wollen, Miss Violet. Gerade jetzt, wo die Ballsaison beginnt.“
„Oh, ich füge mich da ganz den Wünschen meiner Eltern.“
„Nun – dann bin ich sicher, dass Sie bleiben werden. Die jungen Herren, die unsere Bälle besuchen, sind alle aus den besten Familien. Die jungen Damen übrigens auch, lieber Nicholas.“
Marlow verabschiedete sich mit galantem Lächeln von der redseligen Lady und entfernte sich mit Violet, um ihr, wie er ankündigte, einige Besonderheiten im Foyer zu zeigen. Langsam führte er sie an den Stucksäulen entlang, die im oberen Bereich mit zierlichen Pflanzenornamenten geschmückt waren.
„Hören Sie auf, Unsinn zu schwatzen“, zischte er sie an, während er nach außen hin eine liebenswerte Miene zur Schau trug.
„Was war jetzt wieder falsch?“
„Sind Sie wahnsinnig, von ihren Eltern zu sprechen? Demnächst wird man mich fragen, wie sie heißen, wo sie leben und ob ich sie nicht zu mir einladen möchte.“
„Dann lassen Sie sich etwas einfallen“, gab sie boshaft zurück und schenkte ihm zugleich ein strahlendes Lächeln.
„Ich warne Sie, Miss Burke. Wenn Sie glauben, die Lage ausnutzen zu können, um sich an mir …“
Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn in diesem Augenblick strebte ein kleiner, wohlbeleibter Gentleman auf sie zu, dessen rosig leuchtende Glatze von einer weißen Haarsträhne überzogen war.
„Miss Burke! Welch eine Freude“, rief Mr. Milverton und ergriff Violets Hand, um einen galanten Kuss auf den weißen Spitzenhandschuh zu hauchen. „Ich habe bereits mehrere Billetts an Sie versendet, ohne eine Antwort zu erhalten. Kommen Sie, lieber Nicholas – ich habe für den Abend eine Loge gemietet, lauter gute Freunde und Bekannte. Machen Sie uns die Freude!“
Marlow fiel einen Augenblick aus seiner Rolle und zog unwillig die Augenbrauen in die Höhe. Doch er fing sich rasch wieder, setzte ein Lächeln auf und erklärte mit großem Bedauern, dass er selbst
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