Schwarze Schafe in Venedig
mich der Verlust des Buchs auch schmerzte, so fürchtete ich doch, es könnte womöglich noch viel schlimmer kommen.
Neunzehn
Als ich später am selben Abend wieder zuhause in meiner Wohnung saß, versuchte ich mir einen Reim auf die verzwickte Lage zu machen, in die ich da unversehens hineingeraten war. Leichter gesagt als getan. Ich wusste, dass man mich reingelegt hatte, keine Frage, nur warum, das konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären. Ja, man konnte wohl davon ausgehen, dass die Bombe dazu gedacht gewesen war, den Grafen Borelli zu töten, aber abgesehen davon, dass er ein bisschen Geld auf der hohen Kante hatte und in einer Nobelherberge in bevorzugter Lage residierte, wollte mir einfach kein Grund einfallen, warum man ihn lieber tot als lebendig sehen wollte.
Auch ein kleiner Streifzug durchs Internet vermochte kein Licht ins Dunkel zu bringen. Wie es schien, führte der Graf ein recht zurückgezogenes Leben. In den italienischen Gazetten gab es ein paar Treffer, allesamt Schnappschüsse von ihm bei diversen gesellschaftlichen Ereignissen. Soweit ich das verstand, gehörte er zu den aktiven Unterstützern des Carnevale und war ein wichtiger Geldgeber einer in den USA ansässigen Wohltätigkeitsorganisation, welche sich um den Erhalt vom Verfall bedrohter Gebäude bemühte (was einer gewissen Ironie nicht entbehrte, wenn man bedachte, welchen Schaden ich kürzlich an seinem Haus angerichtet hatte).
Der Mann auf den Fotos sah eigentlich genau so aus, wie man es von einem europäischen Grafen erwartete. Ein sonnengebräunter, distinguierter Gentleman mittleren Alters, dem man sein Vermögen ansah, mit markanter Hakennase und dichtem grauem Haar, sorgsam zu Fönwellen gelegt. Auf jedem der Bilder sah man ihn in Begleitung einer anderen glamourösen Schönheit. Auf manchen Fotos trug er einen Smoking, manchmal auch ein maßgeschneidertes Jackett über Seidenhemd und V-Ausschnitt-Pullover. Er trug keinerlei Schmuck (bis auf eine kostspielige Armbanduhr) und definitiv keinen Ehering – der Graf war Junggeselle, und den gewagten Dekolletees und anbiedernden Posen der bildhübschen Begleiterinnen an seinem Arm nach zu urteilen, genoss er seinen Status als alleinstehender Lebemann in vollen Zügen.
Graziella gehörte nicht zu den Damen auf den Fotos – das wäre ja auch zu einfach gewesen –, aber es gab gewisse Ähnlichkeiten. Mit Modelfigur und strahlend schönem Gesicht verdrehten sie den Männern sicher kinderleicht den Kopf. Man konnte sich also gut vorstellen, dass Graziella den Grafen tatsächlich ins Casino begleitet hatte, während ich in sein Haus eingebrochen war, und auch, dass sie womöglich mehr waren als bloß gute Freunde. Bedeutete das vielleicht, dass ich in einen Liebesstreit verwickelt worden war? Gut, ich hatte zwar schon von Frauen gehört, die, von ihrem Liebhaber schnöde verlassen, einen perfiden Rachefeldzug starteten, aber man brauchte ja nicht gleich so maßlos zu übertreiben.
Sollten sie aber tatsächlich gemeinsam im Casino gewesen sein, bestand durchaus die Möglichkeit, dass einer der Angestellten sich an sie erinnerte und Graziella für mich identifizieren könnte. Ein wirklich bedenkenswerter Ansatzpunkt, und behandelnswert auch. Ja, ich wunderte mich fast ein bisschen, nicht schon früher darauf gekommen zu sein, weshalb ich mich in der Folge auch fragen musste, was ich womöglich sonst noch übersehen hatte. Es musste doch noch mehr Anhaltspunkte geben, die es zu verfolgen lohnte.
Dann fiel mir ein, dass Martin und Antea mir sicher einiges über den Grafen erzählen könnten, aber ich war unschlüssig, ob ich es riskieren sollte, ihr Misstrauen zu wecken. Martin hegte offenkundig bereits Zweifel bezüglich meiner Überfallgeschichte, und selbst wenn ich Victoria an meiner statt zu ihnen schickte, wäre das ein ziemliches Wagnis, das ich vorerst lieber noch nicht eingehen wollte.
Ein weiterer Anhaltspunkt war die untersetzte Gestalt mit dem ausgeprägten Hinken, die Victoria und mir bis in jene Sackgasse gefolgt war. Ich wusste zwar nicht, ob ihn außer seiner etwas überentwickelten Neugier noch etwas antrieb, aber so, wie er uns an den Hacken geklebt hatte, lag die Vermutung nahe, dass er sich brennend dafür interessierte, was ich so alles trieb. Sollte er noch einmal auftauchen, schwor ich mir, ihn zur Rede zu stellen, um herauszufinden, was hinter seiner Schnüffelei steckte.
Und dann wäre da natürlich noch der Graf selbst. Vielleicht sollte ich ihn
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