Schwarze Schafe in Venedig
hinausstürzte, lief sie schon die Straße entlang in Richtung Canal Grande. Diesmal wartete kein Boot auf sie. Es war dunkel und kalt, aber die Sicht war gut, denn die Nacht war sternenklar, und der Vollmond stand am Himmel. Ihre rote Perücke war nicht zu übersehen, sie schien wie ein Leuchtfeuer in der Schwärze, und das flinke Tappen ihrer Schritte hallte von den Steinmauern und den stillen Wassern des Fondamenta Venier wider.
Ich musste das Risiko eingehen und ihr folgen. Bis jetzt hatte sie die Zügel in der Hand gehabt; sie hatte nicht nur meine nächsten Schritte vorausgeahnt, nein, sie hatte sie regelrecht geplant. Und auch wenn Sie vermutlich das Gegenteil annehmen, so war ich doch kein kompletter Idiot und hatte durchaus noch das ein oder andere Ass im Ärmel. Gut möglich, dass sie mich zu den Leuten führte, die den Grafen Borelli lieber tot als lebendig sehen wollten. Könnte ich herausfinden, wer dahintersteckte, oder womöglich sogar Beweise gegen sie sammeln, hätte ich genug Munition, um mich aus meiner Rolle als Meuchelmörder zu stehlen oder sogar die zuständigen Ermittlungsbehörden oder die Presse zu informieren. Andererseits könnte es auch sein, dass sie schlicht und ergreifend auf dem Weg nach Hause war, und mit ein bisschen Glück könnte ich dann bei ihr einsteigen und mich auf die Suche nach meinem Malteser Falken machen.
Während ich noch zögerte, meine Deckung zu verlassen, überlegte ich, ob ich die Pistole zu meiner Verteidigung mitnehmen sollte, doch dann fiel mir ein, dass ich beim überstürzten Verlassen meiner Wohnung weder Schlüssel noch Dietriche mitgenommen hatte. Jetzt wieder hochzulaufen hätte mich zu viel Zeit gekostet, und die Waffe mit der Hand aus dem Briefkasten zu angeln barg die Gefahr schwerster Verstümmelungen. Graziella völlig unbewaffnet zu folgen war ein nicht zu unterschätzendes Risiko, aber angesichts meiner etwas verzwickten Lage und der von ihr gegen mich ausgebrachten Drohungen fürchtete ich, sie jetzt aus den Augen zu verlieren könnte weitaus schlimmere Folgen haben.
Unauffällig drückte ich mich jenseits des Lichtkegels herum, der von einer Straßenlaterne ganz in der Nähe auf das Pflaster fiel, bis sie am Palazzo Cini links abbog, dann zog ich die Haustür hinter mir zu und setzte ihr nach, in einem seltsam affigen Gang, halb hopsend, halb auf Zehenspitzen schleichend; ein verzweifelter Versuch, so schnell und dabei lautlos wie möglich ans andere Ende der Straße zu gelangen. Dort angekommen drückte ich mich gegen die schmuddelige Backsteinmauer, reckte den Hals und spähte um die Häuserecke. Etwas leuchtend Rotes blitzte auf und verschwand dann um die nächste Ecke, und ich flitzte hinterher, aus unerfindlichen Gründen vornübergebeugt, als duckte ich mich unter feindlichem Beschuss.
Die Kunsthandwerksläden und Galerien, Sonnenbrillengeschäfte und Viertels- tabacchi , an denen ich vorbeihastete, lagen um diese Tageszeit im Dunkeln und waren mit Gittern und Eisenstangen verbarrikadiert. Weiter vorne tauchte die Accademia di Belle Arti vor mir auf, deren untere Hälfte der Steinfassade hinter einem Baugerüst verschwunden war, umhüllt von Spanplatten, die als provisorische Plakatwände fungierten. Die nutzte ich als Sichtschutz, ehe ich schließlich weiter in Richtung Ponte dell’Accademia schlich.
Graziella war gerade in der Mitte des Brückenbogens angelangt, und ihre Schuhe trommelten rhythmisch auf den Holzbohlen, während sie hocherhobenen Hauptes, die Hände tief in die Taschen ihres Ledermantels vergraben, über die Brücke lief. Der Anblick des mondbeschienenen Wassers interessierte sie allem Anschein nach nicht im Geringsten – nicht mal die gespenstisch in den Nachthimmel ragende Kugel der Kirche Santa Maria della Salute würdigte sie auch nur eines flüchtigen Blickes – und ich war heilfroh und dankbar, dass sie so in sich gekehrt zu sein schien.
Auf der Bogenbrücke wäre ich vollkommen schutzlos. Da gab es keine Ecken und Nischen, in die man sich ducken konnte, und auf den Holzbohlen hallten die Schritte um ein Vielfaches verstärkt. Sosehr mich das auch schmerzte, ich musste warten, bis Graziellas rote Perücke auf der anderen Seite wieder hinuntergewippt war, bis ich selbst die Treppe hinaufflitzen konnte.
Eine nächtliche Brise wühlte das wogende Wasser des Kanals auf, und ich stellte den Kragen meiner Jacke gegen die Kälte auf und zog das Kinn bis auf die Brust herunter. Dass ich keine Socken trug, machte die
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