Schwarze Schafe in Venedig
irgendwann wurde mir so schwindelig, dass ich einen Moment stehen bleiben musste und über die steinerne Balustrade nach oben spähte. Anzüglich grinsend schaute Graziella von oben auf mich herab, und die roten Haare ihrer Perücke ringelten sich um ihr Gesicht wie exotische Tentakeln. Sie kicherte und hielt sich dann schnell den Mund zu, und der enge Hof unter uns warf das Geräusch verstärkt wieder zurück.
»Wo willst du hin?«, fragte ich. »Wohin führst du uns?«
Worauf sie noch mal kicherte; ein Kichern, das schon fast an das irre Gackern einer menschenfressenden Kräuterhexe erinnerte, dann zog sie schnell den Kopf ein und war auch schon wieder verschwunden. Wenige Augenblicke später verrieten ihre tappenden Schritte, dass sie weiter nach oben stieg.
Ich lief hinterher, und die dünne Nachtluft war schneidend kalt und brannte beim Einatmen in den Nasenlöchern. Die Muskeln in meinen Oberschenkeln brannten und juckten unter der Hose, und meine nackten Füße scheuerten sich innen an den Schuhen wund.
Nach weiteren zwei Runden um den Turm war ich an der Stelle, an der Graziella eben gestanden hatte, aber von ihr war weit und breit nichts zu sehen. Ich ließ den Kopf hängen, stützte die Hände auf die Knie und sog gierig ein paar tiefe schmerzhafte Atemzüge ein, um mich dann wieder an der gerundeten Innenmauer abzustützen und weiterzutaumeln. Oben angekommen war ich nur noch ein keuchendes, schwitzendes, zitterndes Häufchen Elend.
» Buono , Charlie. Du hast es also doch geschafft.« Energiegeladen wie eine dieser unermüdlichen, unerträglich gut gelaunten Fitnesstrainerinnen klatschte sie in die Hände.
Stöhnend ließ ich die Jacke von meinen Schultern gleiten und stolperte in die Mitte des runden Raums. Das T-Shirt klebte mir am Rücken, und meine Kopfhaut kribbelte, als könne mir jeden Augenblick schwarz vor Augen werden. Hier oben im Turm gab es eine ganze Reihe gewölbter Öffnungen. Graziella hockte mitten in einer solchen, sportlich auf einer steinernen Brüstung balancierend, während sie sich außen an dem Bogen über ihrem Kopf festhielt, sodass sie ein bisschen etwas von einem nach innen schauenden Wasserspeier hatte.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich und legte den Kopf in den Nacken, während ich die Hände in die Hüften stemmte, um möglichst viel Luft in meine Lungen zu saugen.
»Mein geheimer Lieblingsort. Schöne Aussicht, nicht wahr?«
Wobei sie mit einer Hand eine schwungvolle, ausladende Geste machte, worauf ich mit halb geschlossenen Augen ungläubig nach draußen linste. Obwohl mir der Schweiß in Strömen über die Stirn lief, ließ es sich nicht leugnen, dass die Szenerie wirklich atemberaubend war – weshalb ich wenigstens eine gute Entschuldigung hatte für mein heftiges Schnaufen. Vor mir im sanften Dämmerlicht lag eine Traumlandschaft aus maroden Terrakotta-Dächern, versteckten Dachterrassen und Hinterhofgärten, klapprigen Fernsehantennen, schiefen Glockentürmen und Kirchenkuppeln. Hinten in der Ferne konnte man das schwarze Wasser der Lagune nur am matten Blinken der Positionsleuchten an den Holzpflöcken erkennen.
»Und warum sind wir hier?«, hechelte ich.
»Weil du mir gefolgt bist. Kaum jemand kennt diesen Turm. Ich dachte, du möchtest ihn vielleicht gerne sehen?«
»Du wusstest, dass ich dir hinterhergelaufen bin?«
»Natürlich. Das habe ich nicht anders erwartet. Du willst mehr über mich erfahren. Wo ich wohne, vielleicht?« Mitfühlend lächelte sie mich an und legte den Kopf schief. »Aber es tut mir leid, Charlie, das kann ich dir nicht verraten. Zumindest nicht, bis du Borelli umgebracht hast, capito? «
Ihre Augen waren verschleiert vor Müdigkeit. Vielleicht auch von einer etwas verqueren Art von Mitleid. Ich versuchte, nicht darin zu versinken. Gab mir wirklich alle Mühe.
Mit einer Hand griff sie nach oben und schlug gegen das Mauerwerk, als wollte sie es auf seine Festigkeit überprüfen. »Weißt du, Charlie, schon als kleines Mädchen bin ich immer gerne geklettert. Zuerst auf Bäume. Dann Mauern. Meine Eltern haben das gesehen und mich zum Bergsteigen in die Dolomiten geschickt. Damit ich anständig klettern lerne. An Felsen. Oben in den Bergen. Mit Seilen.« Sie grinste. »Und auch ohne. Da habe ich gelernt, mich abzuseilen. Das hast du schon gesehen, nicht wahr?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Worauf ich hinauswill? Ganz einfach. Ich kann überall hingehen, Charlie. Wo immer ich hinwill. Hoch. Runter.« Mit dem Kinn wies sie
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