Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
Sie schloss die Augen und lauschte dem Kreischen der Zikaden. Sie versuchte, einzelne Tiere auszumachen, doch es gelang ihr nicht. Erschöpft schlief sie ein und träumte einen Traum, in dem sie das Geschehene noch einmal durchlebte.
Sie schwamm ans Ufer und spürte den Schlick zwischen den Zehen und unter den Füßen. Auf allen vieren kroch sie die Böschung hinauf und blieb atemlos im hohen Gras liegen. Sie hörte Schreie. Sie rächten sich an ihrer großen Schwester. Ich muss ihr helfen, ich muss zurück zum Boot, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie blieb einfach liegen, presste die Augen zu und drückte die Hände auf die Ohren, bis sie nichts mehr hörte.
*
Nachdem Ly die ganze Flasche Reiswein geleert hatte, hatte er sich noch einmal hingelegt und war eingeschlafen. Als er aufwachte, war Thuy längst weg. Huong saß im Schneidersitz neben ihm auf dem Boden und aß banh cuon , Reiscrêpes mit Hackfleisch und gerösteten Zwiebeln. Sie trug ihre Schuluniform, einen marineblauen Faltenrock mit weißem Hemd und rotem Pionierhalstuch. Ihre Haare – sie hatte das samtene Haar ihrer Mutter geerbt, nicht sein strubbeliges, widerspenstiges – hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Morgen, Papa, auch endlich wach?« Ihr Grinsen zog sich bis in ihre Augen hoch. Ly hatte das Gefühl, dass die Sorgen der letzten Nacht übertrieben waren. Trotzdem, er würde mit ihr reden, er hatte es Thuy versprochen.
»Kaffee?« Huong stand auf und goss ihm aus einer Thermoskanne eine Tasse ein. Er schmeckte wie vom Vortag.
Ly hatte keine Idee, wo er ansetzen sollte. Er kam sich lächerlich vor. Huong hatte längst aufgegessen, als er sich endlich überwand, etwas zu sagen. »Wir müssen uns unterhalten.«
Seine Tochter sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Papa, ich muss zur Schule. Ich bin schon spät dran.«
»Es ist Sonntag.«
»Mama hat mich doch bei diesen blöden Wochenendkursen angemeldet.«
Ly seufzte.
»Geht’s nicht heute Abend?«, fragte Huong.
»Abends sehen wir uns ja nie.«
»Ist nicht meine Schuld.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Ly seufzte. »Wer sind diese Jungs mit den Tattoos?«
»Welche Jungs?«
»Du weißt genau, von welchen ich rede.«
Huong verdrehte die Augen. »Ich dachte, du bist auf meiner Seite. Jetzt fängst du auch noch mit diesem Spießerkram an.«
»Die sind gefährlich.«
»Papa, Tattoos sind cool und meine Freunde nicht gefährlich. Gibt’s sonst noch was?«
Wie sprach sie eigentlich mit ihm? Er ärgerte sich, aber es war eindeutig zu früh am Tag, um sich zu streiten. »Nicht so wichtig.«
»Gut, ich muss nämlich wirklich los.« Damit stand sie auf, nahm ihre Tasche und schlüpfte in ihre Sandalen. In der Tür blieb sie stehen, drehte sich noch einmal um und warf ihm ein schwaches Lächeln zu. »Papa, mach dir keine Sorgen. Ich pass schon auf mich auf.«
Sie hüpfte auf einem Bein die Metallstiege runter. Ly wartete, bis er Huong nicht mehr hörte, dann stand er auf, trank noch einen Schluck Kaffee und tappte hinunter in den Hof. Durch die Ritzen des Wellblechdachs glühte die Sonne. Einer seiner kleinen Neffen saß in einer roten Plastikwanne und badete. Neben ihm stand ein Eimer mit frisch geköpften Fischen. Blut lief in kleinen Rinnsalen über den Boden. Alles war nass und glitschig. Die Waschmaschine lief laut.
In der Duschnische breitete sich Schimmel aus, wie eigentlich überall im Haus. Kein Baumaterial widerstand der Luftfeuchtigkeit. Den Brausekopf musste Ly mit der Hand halten, seine Halterung war aus der porösen Wand gebrochen. Sobald er Zeit hatte, würde er das reparieren.
Als er in den Spiegel schaute, erschrak er. Er sah furchtbar aus. Um seinen Mund herum hatten sich Falten gegraben, sein Gesicht war noch schmaler als sonst, und die Tränensäcke waren geschwollen. Er musste unbedingt mehr schlafen und weniger trinken. Der Gedanke daran bereitete ihm schlechte Laune.
*
Bis in die Dusche hörte Ly seine Mutter zetern. Die Worte hallten bruchstückhaft durch das Haus. Sie klang aufgebracht. Er trocknete sich ab, zog sich an und ging durch den langen, düsteren Gang, der durch das ganze Haus führte. Er war vollgestopft mit Kisten und Kästen, Flaschen und Rohren. Niemand wusste mehr, wem sie gehörten. Seitlich gingen die fensterlosen Wohnhöhlen seiner Geschwister und ihrer Familien ab. Wenn sie dieses Haus endlich verkaufen würden, könnte sich jede Familie von dem Erlös eine eigene Wohnung in einer der Neubausiedlungen kaufen. Doch
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