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Schwarze Stunde

Schwarze Stunde

Titel: Schwarze Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Feher
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einem armen Jungen zufrieden? Ich lade dich gerne ein, wenn auch von meinem letzten Taschengeld.«
    »Vergiss es«, fauche ich ihn an. Wo ist nur Alena? Ausgerechnet jetzt, wo ich sie am dringendsten brauche, kann ich sie nirgends entdecken. Wir nähern uns dem Musikraum, wenn wir dort angelangt sind, müssen sie aufhören. Die Jungs lachen und grölen jetzt laut durcheinander, springen um mich herum, während Yuki weiter neben mir geht, Schritt für Schritt synchron mit mir, Fiona auf der anderen Seite, eine unheimliche Eskorte.
    An der Treppe begegnen wir Frau Bollmann, die gerade von der Hofaufsicht zurückkehrt, ihr leichter Wollmantel weht hinter ihr her und ihr Halstuch ist verrutscht, ihre Wangen sind leicht gerötet. Sie stutzt, als sie uns sieht.
    »Was ist denn hier los?«, erkundigt sie sich. »Können Sie nicht ein bisschen leiser durchs Schulhaus gehen? Es klingelt jeden Moment zur Stunde.«
    Meine Begleiter verstummen, ich werfe unserer Lehrerin einen dankbaren Blick zu, sie erwidert ihn mit geweiteten Augen, die Brauen hochgezogen. Vielleicht habe ich eher verzweifelt als erleichtert ausgesehen, auch das noch, natürlich wird sie sich fragen, weshalb. Dann weiß auch sie bald Bescheid.
    Im Musikraum steht Frau Lindner vor dem Klavier und schlägt ein Notenheft auf, von Corvin keine Spur. Dafür ist wie aus dem Nichts Alena wieder da und stellt sich an meine Seite. Yuki weicht gleich einen Schritt zurück.
    »Haben wir heute nicht bei Herrn Schwarze?«, stößt Patrick hervor. Frau Lindner rückt ihre Brille zurecht.
    »Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, antwortet sie und reicht ihm einen Stapel Liedblätter, Auld Lang Syne , das haben wir schon seit der siebenten Klasse immer wieder gesungen, aber nie hebt jemand das Blatt bis ins neue Schuljahr auf. »Ihr Lieblingslehrer ist heute beurlaubt – ein Todesfall in der Verwandtschaft, wie ich hörte. Sie werden ausnahmsweise mit mir vorliebnehmen müssen.«
    Sie setzt sich ans Klavier und spielt die ersten Takte, der Anschlag in gewohnt resoluter Manier, mit Corvin und seiner Gitarre würde das Lied ganz anders klingen; alles, was Abschiedsschmerz für ihn bedeutet, würde er hineinlegen, in jede Zeile, und auch uns dazu bringen, dieses Leid nachzuspüren und in unseren Gesang zu transportieren. Aber Corvin ist nicht da und in mir tobt ein rauer Sturm von Gefühlen. Zum ersten Mal, seit er einen Teil des Musikunterrichts übernommen hat, bringt mich Frau Lindners stakkatoartiges Klavierspiel fast zum Weinen, weil es wie eine Zuflucht auf mich wirkt, ein Stück Sicherheit, ein Zuhause, aber ich muss die ganze Zeit an Corvin denken. Was ist nur passiert? Um wen trauert er? Sobald es möglich ist, muss ich ihn erreichen. Die Schule ist leer ohne ihn. Und ich muss ihn warnen. Wir müssen noch vorsichtiger sein als bisher.
    Zum ersten Mal schwänze ich wirklich, wenigstens die letzten Stunden für heute. Es ist mir egal, dass Frau Bollmann spätestens morgen mein Fehlen im Klassenbuch bemerken und mich nach dem Grund fragen wird, es kümmert mich nicht, dass die Blicke aller anderen auf mich gerichtet sein werden; hämisch, spöttisch, einige wenige vielleicht noch verwundert, neugierig, während ich mir eine Ausrede einfallen lassen muss, von der jeder Einzelne wissen wird, dass sie nicht stimmt. Aber ich kann mich nicht mehr durch die Schule schleppen, mich nicht einmal in den Fachräumen in die letzte Reihe setzen, ohne mich ein einziges Mal zu Wort zu melden. Ich bin nicht in der Lage, auch nur mitzuschreiben, was mitzuschreiben ist, die Aufgaben zu lösen, weder allein noch mit Alena, sofern wir zusammen Unterricht haben. Ich gehe nach Hause und lege mich ins Bett, meiner Mutter werde ich etwas von Migräne erzählen, auch wenn ich die vor ungefähr elf Jahren das letzte Mal hatte. Ich fühle mich erschöpft und sehne mich nach Schlaf; vielleicht rufe ich gegen Abend doch noch Alena an, vielleicht kann sie noch vorbeikommen.
    Später schalte ich den Fernseher im Wohnzimmer ein und schaue alle Shows auf den Privatsendern, in denen Leute vorgeführt werden, um schmutzige Wäsche miteinander zu waschen, danach fühle ich mich noch schlechter als vorher, aber wenigstens war es nicht anstrengend und es ist Zeit vergangen. Aus dem Kühlschrank nehme ich mir einen Joghurt und gehe in mein Zimmer, unschlüssig, was ich tun soll, schalte schließlich meinen Laptop ein, um meine Mails zu checken, vieles ist Werbung, einige unbekannte sind dabei,

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