Schwarze Themse
allgegenwärtigen Angst, wäre über die Kräfte der meisten jungen Frauen gegangen.
Hester klopfte leise an die Tür, aber es kam keine Antwort. Sie drückte die Tür auf und trat ein. Es sah aus, als schliefe Mercy tief und fest, doch sie lag nicht reglos da, sondern bewegte sich leicht, atmete unregelmäÃig und warf den Kopf hin und her.
»Mercy?«, sagte Hester leise.
Keine Reaktion.
Hester ging zu ihr hinüber. Selbst in dem schwachen Licht, das durch die Vorhänge fiel, sah sie, dass Mercy nicht wach war. Sie wälzte sich im Fieber hin und her, auf ihren Wangen zeichneten sich rote Flecken ab, und auf der Oberlippe standen SchweiÃperlen.
Hester spürte, wie Angst sie packte und ihr den Magen zuschnürte. Mit zitternder Hand zog sie die Bettdecke zurück. Ihre Finger berührten sanft die Stelle, wo der Ãrmel des Nachthemds an das Oberteil angenäht war. Sie ertastete die harten Schwellungen. Vielleicht würde es sie alle erwischen, früher oder später. Für Mercy war es zur schrecklichen Gewissheit geworden.
Tränen schnürten Hester die Kehle zu. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Als sie Mercys gerötetes Gesicht und ihr verfilztes Haar betrachtete, wurde ihr klar, wie sehr sie die junge Frau mochte. Zorn erfüllte sie, dass es ausgerechnet Mercy traf und nicht jemanden, der nicht so viel zu verlieren hatte oder der nicht so sehr vermisst werden würde. Das war ein dummes Gefühl, und sie hätte es wissen müssen, dass sie einen solchen Gedanken erst gar nicht zulassen durfte. Aber hier endete alle Vernunft.
Langsam wandte sie sich ab und ging hinaus, schloss die Zimmertür hinter sich und stieg wie in Trance die Treppe hinunter. Sie musste etwas essen, stark bleiben. Sie würde Mercy selbst pflegen und dafür sorgen, dass sie nicht allein war, wenn sie aufwachte. Niemand konnte ihr helfen, niemand konnte ihr die körperlichen Schmerzen abnehmen, das Entsetzen vor dem unentrinnbaren Tod. Lügen wären kein Trost und würden nur einen Graben zwischen ihnen aufreiÃen. Sie konnte nichts tun, als einfach da zu sein.
Sie ging in die Küche. Alle drehten sich zu ihr um, aber Sutton war der Erste, der das Wort ergriff. Er kam mit besorgter Miene auf sie zu.
»Tee!«, befahl er Flo. »Und dann raus mit Ihnen.« Claudine winkte er zu, und sie ging mit bleichem Gesicht hinaus, um sich wieder den endlosen Wäschebergen zu widmen. Es war kaum noch Wasser da, aber sie sagte nichts und beschwerte sich auch nicht. Sie würde das, was noch da war, wenn nötig eben noch einmal benutzen. Squeaky war nirgends zu finden. Hester setzte sich, sie hatte immer noch kein Wort gesagt. Sie umfasste den dampfenden Becher mit beiden Händen und nahm die Wärme in sich auf.
»Wissen Sie, werâs war?«, fragte Sutton leise.
»Wer Ruth umgebracht hat?« Hester war überrascht. Es schien ihr kaum noch eine Rolle zu spielen. »Nein. Und ich weià nicht, ob es mir noch wichtig ist. Die arme Frau wäre sowieso gestorben, sie hat nur länger gebraucht als andere. Zum
Teil wegen des Krankheitsverlaufs, zum Teil, weil sie stark war und nicht halb verhungert auf der StraÃe leben musste. Ich glaube, wenn ich die Pest hätte, würde es mir nicht viel ausmachen, wenn mich jemand ein bisschen früher ins Jenseits beförderte. Sie brauchen mir nicht zu sagen, so etwas sollte man nicht denken, das weià ich. Ich muss aber zugeben, dass ich in letzter Zeit kaum darüber nachgedacht habe. Sie?«
»Nicht oft«, antwortete er. »Sie hat ziemlich viel mit Claudine und Flo gestritten. Mercy war die Einzige, die sie richtig eingeschätzt hat, aber es scheint, als habe sich Mercy auch am meisten um sie gekümmert, und da es ihr Bruder war, der sie hergebracht hat, hat sie vielleicht auch einiges über sie gewusst. Könnte sein, dass sieâs war.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Oder auch jeder andere. Sie war ein gehässiges Miststück, Gott hab sie selig.«
»Ich glaube, wenn Mercy es gewesen ist, dann spielt es keine Rolle mehr«, sagte Hester leise mit flacher Stimme.
Sutton bemerkte den Tonfall und sah sie mit groÃen Augen an. »Sie hat sich angesteckt?«
Hester atmete zitternd ein. »Ja ...« Der Rest ging in einem Schluchzer unter.
Er ergriff ihre Hand, ganz sanft, als wollte er sich nicht aufdrängen. Sie spürte die Wärme seiner
Weitere Kostenlose Bücher