Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
Sorge bereitete ihm Millepertia, denn seit dem Morgen machte sie einen gefassten, nahezu abgeklärten Eindruck – fast so, als habe sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden. Die Zugreise hindurch hatte sie vermeintlich geschlafen, doch wann immer sie glaubte, er sähe es nicht, hatte sie ihn gemustert. Ob sie ahnte, dass er ihr gestern gefolgt war? Lukas hoffte es nicht und hatte ihr natürlich auch nichts davon erzählt.
Ihm war es noch immer zutiefst peinlich, ihr bei einem solch intimen Moment nachgestellt zu haben. Dennoch musste er mit ihr sprechen, denn falls sie ihm etwas verheimlichte, musste er es wissen. Nur bedurfte es dafür des rechten Augenblicks. Und genau darin lag die Crux. Denn bislang hatte es keinen Augenblick gegeben, in dem er sie unter vier Augen hätte ansprechen können.
Millepertia setzte sich neben ihn und befreite Abraham aus dem Rucksack, der nun ebenfalls zum Barbarossa-Denkmal spähte.
»Sehr gut.« Der Geomant nickte zufrieden. »Wann schließen die da oben?«
»Offiziell? Ich glaube, in wenigen Minuten«, antwortete Lukas, der sich nun die Schuhe auszog und seine Füße massierte. Unweit von ihnen donnerte ein Laster vorbei. »Spätestens gegen neunzehn Uhr sollte da oben kein einziger Tourist mehr sein.«
»Bei unserem Tempo sind wir ohnedies kaum vor zwanzig Uhr da«, stellte Millepertia fest.
»Meiner Einschätzung nach ist es ist nicht nötig, sich weiter Schusters Rappen zu bedienen«, widersprach Abraham. »Wir sind schon sehr nah herangekommen, und in einer halben Stunde geht die Sonne unter. Ich denke, wir können es riskieren, den Rest der Strecke im Schutz der Dunkelheit mit den Besen zu bewältigen.«
Lukas sah kurz zu Millepertia, die lediglich nickte und die Reste ihres Proviantes auspackte. Schweigend verspeisten sie ihre Brote, während es um sie herum immer düsterer wurde. Dann gab Abraham das Kommando zum Aufbruch.
Mit hohem Tempo ritten Lukas und Millepertia auf ihren Hexenbesen durch die Nacht, geradewegs auf das Barbarossa-Denkmal zu. Über ihnen funkelten die Sterne; unter ihnen zog eine bergige Waldlandschaft dahin, die am Rande ihres Sichtfeldes von den Lichtern kleiner Ortschaften erhellt wurde. Rasch kam ihr Ziel näher. Lukas sah nun, dass der protzige Turm wie erwartet inmitten der Ruinen der einstigen Reichsburg Kyffhausen aufragte und so ihre Anflugzone markierte.
Wenig später glitten sie auf ihren Besen in die Tiefe, flogen über einen verwaisten Parkplatz hinweg und landeten auf einer auf breiten Rundbögen stehenden Aussichtsterrasse zu Füßen des Ehrenmals, unter der sich ein quadratischer Innenhof erstreckte. Dort unten, direkt in den Sandsteinsockel des Denkmals gemeißelt, befand sich eine Plastik von Friedrich Barbarossa. Sie erinnerte an die bekannte Legende um den Stauferkönig. König Rotbart war dort in schlafender Pose auf seinem Thron abgebildet und strahlte mit seinem überlangen Bart feierliche Würde aus.
Lukas betrachtete das Abbild mit gemischten Gefühlen. Überragt wurde es von einem hohen Reiterstandbild aus grünstichigem Kupfer, das Kaiser Wilhelm den Ersten verherrlichte und dem ein germanisch anmutender Krieger samt einer Frau mit Eichenlaubkranz zu Füßen lagen. Welche verstaubten Ideale damit auch immer zum Ausdruck gebracht werden sollten, sie kümmerten ihn nicht.
Vorsichtig sahen sie sich um. Auf der dem Denkmal gegenüberliegenden Seite ihres Landeplatzes lag eine weitere, etwas tiefer liegende Terrasse, die ihren Standort in einem breiten Halbrund umschloss. Wie schon aus der Luft ersichtlich, wirkte hier alles verlassen. Nur etwas weiter im Westen, vom Denkmal abgeschirmt, hatte er aus der Luft Nutzbauten erkennen können, hinter deren Fenstern vereinzelt Lichter gebrannt hatten. Sie reichten bis zu einer quadratischen Turmruine, hinter der nur noch Dunkelheit auszumachen war. »Und jetzt?«, fragte Lukas.
Abraham kletterte aus Millepertias Tasche, sah sich um und wandte sich dann Lukas zu. »Fassen wir zusammen, was wir herausgefunden haben«, schlug er vor, kraxelte auf ein Gesims und berührte die Armillarsphäre vor der schmalen Brust. »Dank Eurer Recherchen mittels des kleinen Wunderkastens wissen wir, dass die Reichsburg einst in drei Anlagen unterteilt war. Ich glaube kaum, dass wir hier oben, auf dem Gebiet der einstigen Oberburg, fündig werden. Die Ruinen wurden größtenteils mit dem Denkmal überbaut. Bleiben also Mittel- und Unterburg, wobei von der Mittelburg ebenfalls kaum noch
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