Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
wenn wir den Waisen da unten wirklich finden?« Sie wechselten unbehagliche Blicke.
»Falls uns tatsächlich himmlische Mächte an diesen Ort geführt haben«, erhob Abraham die Stimme, »müssen sie dir doch irgendeinen Hinweis darauf gegeben haben.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Dann übergeben wir den Stein tatsächlich …
ihm?
« Lukas sah sich misstrauisch nach Mephistopheles um. »Mir kommt das noch immer so vor, als würden wir versuchen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.«
»Ich weiß, was Ihr meint.« Abraham seufzte. »Leider scheint dies die einzige Option zu sein, die sich uns bietet. Um seiner Vernichtung zu entgehen, wird er ihn sicher mit Klauen und Zähnen verteidigen. Nur ist er ganz eindeutig nicht mehr der Alte.«
Millepertia zuckte mit den Schultern. »Im Augenblick sind wir ohnedies auf uns allein gestellt.«
»Soll ich ihn herbeirufen?« Lukas strich nachdenklich über sein Kinn, doch Abraham schüttelte den Kopf: »Nein. Der Gedanke,
ihn
weiter in unsere Pläne einzubeziehen, behagt mir noch immer nicht. Warten wir erst einmal ab, was wir dort unten überhaupt vorfinden. Vielleicht ist Erzbischof Arnold von Wied auf eine Lösung für das Problem gekommen, die wir selbst bislang noch nicht in Betracht gezogen haben.«
»Dann los!« Lukas reichte Millepertia einem Impuls folgend die Hand. Tatsächlich griff sie danach, und gemeinsam gingen sie die Stufen hinunter. Ihre Schatten geisterten über die Wände, und ihre Schritte hallten durch den schmucklosen Felsengang. Er beschrieb nur wenige Windungen. Hin und wieder konnten sie über sich an der Decke die Rußspuren alter Fackeln ausmachen. Während sie über die lange Treppe immer tiefer in den Berg hinabstiegen, wehte ihnen ein warmer Luftzug entgegen. Plötzlich weitete sich der Gang zu einem gemauerten Rundbogen. Hinter diesem erstreckte sich ein steinerner Balkon, von dem aus zwei Freitreppen linker und rechter Hand weiter nach unten führten.
Lukas trat neben Millepertia vor das Geländer. Gemeinsam leuchteten sie mit ihren Lampen in die Dunkelheit, konnten jedoch kaum etwas erkennen. Lukas wandte sich ab und war bereits auf dem Weg zu einer der Treppen, als sich an den Höhlenwänden unvermittelt große Fackeln entzündeten und das Gewölbe aus der Dunkelheit rissen.
»Mein Gott!«, hörte er Abraham flüstern.
Auch Lukas riss fassungslos die Augen auf. Das Licht offenbarte eine gewaltige, an manchen Stellen dreißig Meter hohe Höhle, deren Wände und Decke wie ausgefranst wirkten – fast so, als hingen Tausende Lappen von der Decke. War das Gips?
Drei monumentale Steinsäulen stützten den Felsendom. In die Flanken waren riesige Bildhauereien eingearbeitet. Lukas starrte nach vorn zur Galerie, und es verschlug ihm den Atem. Zusammengesunken auf dem Boden lagen und saßen dort weit über einhundert bärtige Gestalten. Sie lehnten teils aneinander, und dass es sich bei ihnen um schwerbewaffnete Kreuzritter handelte, war deutlich an den Kettenhemden und den mit schwarzen Kreuzen geschmückten Wappenröcken zu erkennen. Die Männer hielten Speere und Schilde in den gepanzerten Händen und waren zudem mit Schwertern, Äxten und Bögen bewaffnet. Sogar die Körper von Pferden konnte Lukas inmitten der vielen Ritter ausmachen – und lange Lanzen, die bei diesen schräg in die Luft stachen.
»Das ist einfach … unglaublich«, keuchte Lukas, der unwillkürlich an die berühmte Terrakottaarmee des ersten chinesischen Kaisers denken musste. Nur dass die vielen Gestalten da unten eindeutig aus Fleisch und Blut waren.
»Hört ihr das?«, wisperte Millepertia ergriffen. »Sie
atmen.
«
Tatsächlich konnten sie in der Höhle ruhige Atemzüge vernehmen. Lukas brauchte eine Weile, bis er seine Fassung wiedergewann. »Also stimmt die Legende, dass hier unten ein ganzes verdammtes Heer den Jahrhundertschlaf schläft. Ich glaube es einfach nicht.«
»Ja. Und wie in der Sage beschrieben, dienen sie nur einem.« Abraham ließ sich von Millepertia auf dem Geländer absetzen. Aufgewühlt deutete er zu einem verschatteten Ort am gegenüberliegenden Ende des Felsendoms, der unmittelbar vor einer glatt polierten Felswand lag. Dort, auf einem mit Treppenstufen versehenen Thron, der in einem Stück aus einem Felsblock gemeißelt war, saß ein Mann mit geschlossenen Augen und entschlossenen Zügen, dessen langes rotes Haupt- und Barthaar keinen Zweifel zuließ, wer er war: Kaiser Barbarossa! Sein Haar reichte bis zur obersten
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