Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
einen Loch und plätscherte, statt wie ein Katarakt herabzustürzen, als glitzernder Schleier über die Felswände. Auch die Plattform, auf der sie standen, wurde von der Nässe überspült. Floss dort oben tatsächlich der Rhein?
Doch dann fiel Lukas’ Blick auf den massiven Felssockel in der Mitte des Felsengewölbes, der ringförmig von einem tiefen Schacht umschlossen wurde, und die Frage war vergessen. Auf dem Sockel standen brennende Ölschalen, deren Licht sich in Bergen aus Gold und Geschmeide brach. Der Nibelungenhort! Nie zuvor hatte Lukas solche Pracht gesehen. Auf dem Massiv ruhten Schalen mit Edelsteinen, die in allen Farben des Regenbogens glitzerten. Sie standen neben geöffneten Truhen, die von goldenen Halsringen, Kämmen, Ketten und Münzen überquollen. Zwischen den Truhen erhoben sich kunstvolle Walkürenstatuen aus Marmor, die wiederum als Stützen für versilberte Rundschilde, Schwerter, Speere und Äxte mit goldenem Zierrat dienten. Und das war noch lange nicht alles, denn weiter hinten konnte er Bögen, Helme und große silberne Krüge ausmachen, die einen sonderbaren spitzkegligen Goldhelm auf einem Pfeiler umringten. Er sah verdächtig nach einem altertümlichen Zauberhut aus. Zwischen all den Kostbarkeiten stand sogar ein kompletter Streitwagen mit vergoldeter Deichsel. Lukas war sprachlos. Teufel, das war vermutlich der größte Schatzberg, den er jemals zu Gesicht bekommen würde. Gelänge es ihm, auch nur etwas davon für sich abzuzweigen, hätte er ausgesorgt. Und zwar für immer. Der Schwarzalb sah Millepertia lauernd an und bedeutete ihr, stehen zu bleiben. Dann stakste er über eine brüchig erscheinende Steinbrücke, die den Abgrund zwischen Hort und Höhlenwand überspannte, und winkte ihr zu. Millepertia folgte ihm vorsichtig. »Also, was wollte der Bischof hier sehen?«, fragte sie.
»Urds Spiegel«, grollte Alberich. »Urd war eine Riesin. Die älteste der drei Nornen, der Schicksalsweberinnen. Dieser Spiegel vermag Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weiszusagen. Urd und ihre Schwestern Werdandi und Skuld haben ihm einst ihren Atem eingehaucht.« Er führte sie an einer vergoldeten Harfe vorbei.
Lukas schlich nun ebenfalls über die Brücke, um die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Nur handelte es sich dabei um ein Unterfangen, das schwieriger als gedacht war. Denn in den vielen Schalen rund um ihn herum funkelte das kostbare Geschmeide einfach zu verlockend. Ob all das Gold magisch gegen Diebstahl gesichert war? Lukas zögerte. Andererseits, was, wenn nicht? Was, wenn Alberich nicht damit gerechnet hatte, dass ihn ein gewöhnlicher Dieb bestahl? Seine Linke zuckte unter dem Tarnumhang hervor, und als nichts geschah, stopfte sich Lukas die Jackentaschen grinsend mit Ketten, Ringen und anderen Pretiosen voll. Neben dem mannshohen Modell einer versilberten Esche, von deren Zweigen hölzerne Masken baumelten, blieb er schließlich stehen und sah zu, wie der Zwerg Millepertia zu einem vergoldeten Eichenthron führte. Auf diesem stand ein prachtvoller, dreigeteilter Spiegel mit Schwanenschnitzereien. »Sag mir doch, warum Arnold von Wieds Besuch hier so wichtig für euch ist«, säuselte er. »Vielleicht kann ich euch helfen?«
Die Hexe schüttelte brüsk den Kopf. »Verschwinde, und lass mich allein.«
Ein verschlagener Zug mischte sich in die Züge des Schwarzalben. Kurz nestelte er an seinem Gürtel, besann sich dann jedoch eines Besseren und trollte sich.
Millepertia wartete ab, bis Alberich wieder vor der Brücke stand, dann beugte sie sich über den Spiegel und berührte fast zärtlich den Rahmen. Lukas stand gute zwei Meter hinter ihr und betrachtete ihr Tun aufmerksam. Unvermittelt trübten sich die Spiegelflächen, so als streife sie der warme Atem eines Riesen.
»Stell deine Frage, Johannes’ Tochter«, flüsterte eine greise Frauenstimme.
Lukas spannte sich und sah, dass Millepertia die Anrede ebenso irritierte wie ihn.
Johannes’ Tochter
… War Milles Vater aus irgendeinem Grund bedeutender, als er bislang wusste? Die Greisinnenstimme fuhr fort: »Doch wisse, dass es dem Betrachter des Spiegels nur einmal im Leben gestattet ist, ihm eine Frage zu stellen.«
Millepertia sah sich zu Alberich um, der vor Neugier auf und ab hüpfte. Sie überlegte und flüsterte ihrerseits. »Verrate mir das Geheimnis der Teufelstränen.«
Inmitten des Graus der linken Spiegelfläche glaubte Lukas plötzlich den Schemen einer alten Frau zu erahnen, und Urd begann
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