Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
erneut zu sprechen. »Als der Sohn der Morgenröte, der stolzeste aller Engel, gegen seinen Schöpfer aufbegehrte, verstieß derjenige, der wie Gott ist, ihn in das bitterkalte Totenreich. Auf seinem Sturz vergoss der Sohn der Morgenröte drei Tränen, die in Adamanten ungeahnter Pracht zur Erde fielen. Dreifach war sein Leid, dreifach seine Qual. So wurde aus dem strahlendsten aller Unsterblichen die Finsternis, die Hels Reich regiert.«
Lukas spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er kannte die Geschichte von Luzifers Niederlage gegen den Erzengel Michael und den folgenden Höllensturz. Das Gesicht verschwand, und in der mittleren der Spiegelscheiben erschien ein kaum erkennbares Frauengesicht, das weniger alt wirkte – Werdandi, die Norne der Gegenwart.
»In diesen Tränen«, sprach eine neue Stimme, »schlummern die göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Doch umschlossen sind sie von ewigem Leid. Hüte dich vor ihnen, denn Fluch und Verderben folgen ihnen auf dem Fuß. Eine der Tränen ist zerstört, und doch ist ihr Schicksal mit dem Schicksal der Welt verwoben. Auch dein Schicksal, Tochter des Johannes, ist mit ihnen verknüpft.«
Im Grau der rechten Spiegelscheibe war jetzt ebenfalls ein Gesicht zu erahnen. Es ähnelte dem eines jungen Mädchens – Skuld, die Norne der Zukunft. »Zwei düstere Prophezeiungen ranken um die schwarzen Tränen«, flüsterte eine helle Kleinmädchenstimme. »So heißt es, dass der, der die Tränen zerstört, den Höllenfürsten vernichtet. Wenngleich dies auch nur dem Teufel selbst möglich sein soll.« Lukas legte irritiert die Stirn in Falten. War der Teufel denn nicht der Höllenfürst? Ihm schwirrte der Kopf vor Namen, Ereignissen und Möglichkeiten, die samt und sonders seinen bisherigen Horizont sprengten.
»Wisse auch«, fuhr Skuld fort, »dass es heißt, dass die Tränen das mythische Tor zur Hölle versiegeln. Fallen sie, fallen die letzten Riegel. Dann wird Ragnarök, die ihr die Apokalypse nennt, die Welt heimsuchen. Hels Kreaturen werden in die Welt einfallen, und ihr glühender Zorn wird alles Leben, wie ihr es kennt, vernichten.«
Der Spiegel nahm wieder seine glitzernde Oberfläche an. Millepertia stand ebenso konsterniert da wie Lukas. Auch sie schien das Gehörte erst einmal verdauen zu müssen.
»Ha!« Alberichs Stimme hallte hinter ihnen auf, und Lukas sah, dass sich der Schwarzalb längst wieder zum Thron geschlichen hatte. »Seit fast neunhundert Jahren sterbe ich vor Neugier, was Arnold von Wied damals unbedingt in Erfahrung bringen wollte. Es geht also um Ragnarök! Sag schon, Hexe, steht das Weltenende bevor?« Offenbar hatte der hässliche Gnom doch nicht alles mitbekommen.
Millepertia sah den Schwarzalb erbost an. »Wenn du schon lauschst, Alberich, hättest du früher kommen müssen. Von mir erfährst du nichts. Ich gehe jetzt.«
»Gar nichts wirst du!«, kreischte die Kreatur. »Im Gegenteil.« Lauernd kam er näher. »Schon lange frage ich mich, wer du tatsächlich bist, du liederliche Schlampe. Über welche Kräfte du in Wahrheit gebietest. Seit Jahren muss ich tatenlos dabei zusehen, wie du dir meinen Garten zu eigen machst und zwischen meinen geliebten Rosen deine eklig stinkenden Kräuter ziehst. Und ich habe noch immer nicht herausgefunden, wie du überhaupt finden konntest, woran Heerscharen von Zauberern gescheitert sind.« Er redete sich immer mehr in Rage. »Und jetzt stehst du hier alleine vor mir und spürst Geheimnissen nach, die mich bereits tausend Jahre länger quälen. Ist dir klar, dass mir der Bischof damals die Reste von Thors Hammer gegeben hat, um den Spiegel befragen zu dürfen?« Alberich griff sich an den Kopf und schrie, dass der Speichel flog. »Warum? Warum hat er sich von einem solchen Schatz getrennt? Ich will es endlich wissen. Und du wirst es mir jetzt verraten!«
Bevor Lukas handeln konnte, überstürzten sich die Ereignisse. Millepertia schlug sich die Zähne in die Hand, und Alberich berührte seinen Gürtel. Sie verwandelte sich in rasender Geschwindigkeit in Pflanzengestalt und wirbelte dem Schwarzalb grünliches Blut entgegen. Dort, wo es auf den Leib des Alben traf, entwickelte ihr Lebenssaft wie schon damals in Worms ein seltsames Eigenleben. Knisternd breiteten sich Ranken und Blüten über seinen Leib aus, die versuchten, Alberich einzuhüllen. Doch der Schwarzalbenkönig zerriss die Stränge mit übermenschlichen Kräften, sprang mit einem Satz vor, packte Millepertia und
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