Schwarzer Engel
Zeitgefühl. Ich sprach zu einem Mann, den ich nur in Umrissen wahrnahm. Unaufhörlich erzählte ich: die Geschichte der Casteels und ihrer Armut; über Leigh VanVoreen und was ich von ihr wußte – und das war erbärmlich wenig. Als ich zu Ende war, hatte Tony tausend Fragen. »Brüder im Gefängnis, fünf an der Zahl…«
wiederholte er. »Und sie hat ihn genug geliebt, um ihn zu heiraten. Dein Vater haßte dich aber von allem Anfang an? Ist es dir je gedämmert, warum?«
»Meine Geburt war der Tod für meine Mutter«, war meine schlichte Antwort. Die ganze Sicherheit, die mir meine neue Kleidung gegeben hatte, war verschwunden. Der frühe Abend war dunkel und kühl, und die Party-Gäste waren so weit weg, daß man nicht einmal ihr lautestes Gelächter hören konnte.
Und in dieser Stimmung kamen die Berge wieder und umgaben mich. Wieder war ich eine lumpige Hillbilly-Casteel, schlecht, schlecht, bodenlos schlecht. Mein Gott, wieso starrte er mich nur so an? Kleine Teile meiner Zweifel wuchsen zu einem ganzen Berg an. Für die Stonewalls war ich nicht gut genug, also konnte ich unmöglich zu den Tattertons passen.
Mit diesen Gedanken saß ich niedergeschlagen da, wartete und wartete.
Nachdem ich seine letzte Frage beantwortet hatte, schienen dreißig Minuten vergangen zu sein. Aber er saß noch immer mit dem Rücken zum Fenster, während das Mondlicht auf mein Gesicht fiel und die rosa Farbe meines Sommerkleides in Asche verwandelte. Seine Stimme klang ruhig, vielleicht zu ruhig, als er endlich sprach. »Als du kamst, hielt ich dich zuerst für eine Antwort auf meine Gebete, dachte, du wärst gekommen, um Troy vor sich selbst zu retten. Ich glaubte, du wärst gut für ihn. Er ist ein introvertierter, junger Mann, und die meisten Mädchen tun sich schwer, ihn kennenzulernen. Ich vermute deshalb, weil er Angst hat, verletzt zu werden. Er ist sehr verletzbar… und dann hat er noch diese merkwürdigen Ideen von seinem Tod in jungen Jahren.«
Ich nickte, hatte aber das Gefühl, ein Blinder in einer Welt zu sein, die nur er klar erkennen konnte. Warum sprach er so vorsichtig? Hatte er uns nicht sogar zum Heiraten ermutigt, indem er keinen Einwand gegen unsere Pläne vorbrachte. Und weshalb war er zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, ohne jeden Humor und ganz freudlos?
»Hat er dir seine Träume erklärt?« fragte er.
»Ja, das hat er.«
»Glaubst du das, woran er glaubt?«
»Ich weiß es nicht, aber ich möchte dran glauben, weil er überzeugt ist, daß Träume oft im voraus die Wahrheit erzählen.
Aber ich wehre mich, an seinen Traum vom Tod in jungen Jahren zu glauben.«
»Hat er dir denn erzählt… wie lange er, seiner Meinung nach, leben wird?« Seine Stimme klang beunruhigt, als ob ihn ein kleiner Junge, der in der Nacht geweint hatte, teilweise überzeugt hätte – wider besseres Wissen.
»Wenn Troy und ich verheiratet sind und die einsamen, dunklen Nächte in seinem Leben ein Ende haben, dann wird er das Sterben völlig vergessen. Ich werde ihn genau beobachten und dabei lernen, was ihm Vergnügen macht. Ich möchte ihn zum Mittelpunkt meines Lebens machen. Denn dann kann er sich von seinen Ängsten lösen, daß sich nie jemand genug um ihn kümmern wird, um auch bei ihm zu bleiben. Die Furcht vor einem neuen Verlust ist nämlich der tiefe Grund für seine Ängste.«
Endlich schaltete er seine Schreibtischlampe ein. Blau flammten seine Augen auf, so tiefblau, wie ich sie noch nie gesehen hatte. »Glaubst du denn, ich hätte nicht mein Bestes für Troy getan, glaubst du das wirklich? Ich war erst zwanzig, als ich mich Hals über Kopf in eine Ehe stürzte, nur um Troy eine Mutter zu geben. Und zwar eine wirkliche Mutter, nicht nur irgendein blutjunges Mädchen, das mit den Bedürfnissen eines kleinen Jungen, der zerbrechlich und oft ernstlich krank war, nicht belästigt werden wollte. Und dann gab es noch Leigh, die seine Schwester werde sollte. Ich versuchte mein Bestes.«
»Vielleicht hast du ihm bei den Erklärungen über den Tod seiner Mutter das Paradies besser als alles geschildert, was er im Leben finden konnte.«
»Du könntest teilweise recht haben.« In seiner Antwort schwang Trauer mit. Dann zuckte er mit den Schultern, lehnte sich zurück und sah sich suchend nach einem Aschenbecher um. Als er keinen finden konnte, steckte er sein funkelndes Zigarettenetui in die Tasche zurück, nie vorher hatte ich ihn zu einer Zigarette greifen sehen. »Dasselbe habe ich mir auch überlegt – aber
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