Schwarzer Engel
Hälfte umgeblättert hatte, war ich schon eifersüchtig auf dieses hübsche, blonde Mädchen, auf ihre wohlhabenden Eltern, ihre tollen Kleider. Sie machte Ausflüge in den Zoo, besuchte Museen und sogar fremde Länder, während ich nur Bilder vom Yellowstone Park kannte, aus zerfledderten, dreckigen Nummern von NATIONAL
GEOGRAPHIC oder in Schulbüchern. Beim Anblick von Leigh mit Daddy und Mammi auf einem Dampfschiff, das gerade zu einem fremden Ziel aufbrach, schnürte sich meine Kehle zu.
Da stand sie, Leigh VanVoreen, und winkte demjenigen, der ihr Bild knipste, ganz aufgeregt zu. Dann noch mehr Fotos von Leigh an Bord, beim Schwimmen oder bei Tanzstunden mit Daddy, wobei Mammi fotografierte. Leigh in London vor Big Ben oder bei der Wachablösung im Buckingham Palast.
Irgendwo, lange bevor aus dem Kind ein junges Mädchen geworden war, hatte ich mein Mitleid mit einem Mädchen, das viel zu jung sterben mußte, verloren. Meine Mutter hatte in ihrem kurzen Leben zehnmal soviel Spaß und Amüsement kennengelernt wie ich, und wahrscheinlich mehr als ich in meinen nächsten zwanzig Jahren je kennenlernen würde. In den entscheidendsten Jahren hatte sie wirklich einen Vater, einen freundlichen, liebenswürdigen Mann, wie es von den Bildern schien. Er brachte sie nachts ins Bett, betete mit ihr und brachte ihr bei, wie Männer wirklich sind. Wie hatte ich nur je glauben können, Cal Dennison hätte mich geliebt? Wie konnte ich jetzt noch annehmen, daß Logan mich je wiedersehen möchte, denn wahrscheinlich würden sie beide in mir dasselbe wie Pa sehen. Nein, nein, versuchte ich mir selbst einzureden. Daß er mich nicht liebte, war Pa’s Verlust, nicht meiner. Ich war nicht für alle Zeit verletzt worden. Eines Tages würde ich eine gute Ehefrau und Mutter sein. Und ich wischte mir meine jämmerlichen Tränen ab und verbot ihnen, jemals wieder zu kommen. Wofür taugte Selbstmitleid? Ich würde Pa nie wieder sehen. Unter keinen Umständen wollte ich Pa wiedersehen. Und wieder studierte ich die Fotografien. Ich hatte nie gewußt, daß kleine Mädchen so schöne Kleider tragen konnten, während meine kühnsten Träume mit neun oder zehn darin bestanden, irgend etwas aus den Schlußverkaufsregalen in Sears zu besitzen. Ich starrte auf Fotos mit Leigh beim Reiten, auf einem glänzenden braunen Pferd. Und ihre Reitkleidung brachte ihre helle Haut und das blonde Haar besonders gut zur Geltung. Und Daddy war bei ihr, immer war Daddy bei ihr. Ich sah Bilder von Leigh in der Schule, beim Schwimmen am Strand, in privaten Swimmingpools, stolz auf ihre gerade entwickelte Figur. Ihre Haltung zeigte mir, daß sie stolz war, und ringsherum standen bewundernde Freude. Und dann, ganz plötzlich, verschwand Daddy aus den Bildern.
Und mit ihm verschwand auch Leighs glückliches Lachen, düster blickten jetzt ihre Augen, und ihre Lippen verloren die Fähigkeit zum Lachen. Da war Mammi mit einem neuen Mann, viel jünger und hübscher. Spontan wußte ich, dieser tiefbraune, blonde Mann war der zwanzigjährige Tony Tatterton. Und seltsamerweise konnte das hübsche, strahlende Mädchen, das zuvor so überwältigend in die Kamera gelächelt hatte, nicht einmal ein leichtes, falsches Lächeln zustande bringen. Nun konnte sie nur noch leicht distanziert neben ihrer Mutter mit dem neuen Mann dastehen.
Rasch schlug ich die letzte Seite um. Aha, Jillians zweite Hochzeit! Meine zwölfjährige Mutter im langen, pinkfarbenen Brautjungfernkleid, mit einem Strauß aus zartrosa Rosen.
Knapp neben ihr ein sehr kleiner Junge, der zu lächeln versuchte, obwohl Leigh VanVoreen nicht die geringsten Anstalten dazu machte. Der kleine Junge mußte Tonys Bruder Troy sein, ein schmächtiger Junge mit einem dunklen Haarschopf und riesigen Augen, die nicht gerade glücklich dreinsahen. Müde und emotional leer wollte ich jetzt nur noch allem, was da so schnell auf mich einstürmte, entfliehen.
Meine Mutter hatte ihrem Stiefvater mißtraut oder ihn nicht ausstehen können! Wie konnte ich ihm da jetzt vertrauen?
Trotzdem mußte ich bleiben, um meinen College-Abschluß zu erreichen, der meine ganze Zukunft bedeutete.
Ich stand am Fenster und sah auf die Auffahrt hinunter, die im Kreis herumführte, bis sie in einer langen, kurvenreichen Straße nach draußen führte. Und dabei beobachtete ich Jillian und Tony, die in Abendgarderobe in ein schönes, nagelneues Auto stiegen, das er steuerte. Diesmal also keine Limousine…
vielleicht weil sie keinen Chauffeur
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