Schwarzer Engel
die Leute Bescheid, die um mich herum lebten.«
»Aber du hast die Hungerqualen in deinem Aufsatz so plastisch beschrieben«, beharrte Pru, »daß es fast so wirkt, als würdest du Hunger aus eigener Erfahrung kennen.«
»Wenn man Augen, Ohren und ein mitfühlendes Herz hat, braucht man keine eigene Erfahrung.«
»Wie schön du das gesagt hast«, meinte ein anderes Mädchen und lächelte mich warm an. »Wir haben gehört, daß deine Eltern geschieden sind und dein Vater das Sorgerecht für dich erhielt… Ist das nicht ungewöhnlich? Meistens erhält doch die Mutter das Sorgerecht, besonders wenn es sich um ein Mädchen handelt.«
Gleichgültig versuchte ich mit den Schultern zu zucken. »Ich war noch zu jung, um mich an Einzelheiten der Scheidung zu erinnern. Als ich dann älter war, weigerte sich mein Vater, darüber zu sprechen.« Ich beendete das Gespräch, indem ich meine Gabel in den gemischten Salat steckte und Tomaten und grünen Salat, die ich am liebsten mochte, aufspießte.
»Wann wird dich dein Vater denn besuchen kommen? Wir würden ihn gerne kennenlernen.«
»Mein Vater wird nicht zu Besuch kommen, denn wir mögen uns nicht. Außerdem liegt er im Sterben.«
Die vier Mädchen starrten mich mit offenen Mündern an, als wäre ich eine Erscheinung. Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, erfüllte mich der Gedanke an den sterbenden Pa mit seltsam ungemütlichen Schuldgefühlen, als ob ich kein Recht hätte, ihn zu hassen oder ihm den Tod zu wünschen, weil er doch mein Vater war. Ich hatte keinen Grund, mich zu schämen, keinen einzigen! Jeden schlechten Gedanken, den ich ihm widmete, verdiente er.
Vorsichtig sprach Pru Carraway weiter: »In dieser Schule haben wir gewisse Privatclubs. Also, wenn du es irgendwie arrangieren könntest, daß eine von uns ein Rendezvous mit Troy Tatterton hat… wir würden das sehr zu schätzen wissen.«
Ich war in Gedanken noch bei Pa und nicht auf der Hut. Ich saß da, das letzte Stück von meinem Brot halb aufgegessen, und antwortete unbehaglich: »So etwas kann ich auf keinen Fall drehen. Er ist ein Mann mit einem eigenen Kopf und viel zu alt und gebildet für die Mädchen von Winterhaven.«
»Troy Tatterton wurde vor zwei Wochen erst dreiundzwanzig«, fing Faith Morgantile an. »Einige Schülerinnen hier sind achtzehn und für einen Mann seines Alters genau richtig. Außerdem haben wir dich mit ihm am Sonntag gesehen, und du bist erst sechzehn.«
Es verdutzte mich, daß ich in einer Großstadt wie Boston mit Troy erkannt worden war. Das also war’s! Der Grund für ihr plötzliches Interesse an mir! Sie oder einer ihrer Freunde hatten mich im Café mit Troy gesehen. Ich stand auf und ließ meine Serviette auf den Tisch fallen. »Danke für die Einladung an euren Tisch«, sagte ich. Es schmerzte mich, denn ich hatte so darauf gehofft, hier Freunde zu haben. Mein ganzes Leben hatte ich nie eine Freundin gehabt, von Fanny abgesehen. Von meinem eigenen Tisch nahm ich die Bücher, die ich dort zurückgelassen hatte und marschierte aus dem Speisesaal.
Von diesem Augenblick an spürte ich, daß sich die Einstellung der Mädchen verändert hatte. Zuvor hatten sie mich nur beargwöhnt, weil ich neu und anders war. Jetzt hatte ich sie herausgefordert und sie mir sinnlos zu Feinden gemacht.
Am nächsten Morgen nahm ich aus meiner Kommode einen wunderschönen kornblumenblauen Kaschmir-Pullover und den dazu passenden Rock. Zu meinem absoluten Entsetzen mußte ich feststellen, daß sich der nagelneue Pulli aufzulösen begann, und an dem Wollrock, den ich auf mein Bett gelegt hatte, hing der Saum herunter! Außerdem hatte jemand sehr sorgfältig die Stiche der vorderen Kellerfalte aufgetrennt. In den Willies hätte ich Pulli und Rock trotzdem getragen, aber hier nicht, nicht hier! Nicht wenn ich wußte, daß Pulli und Rock gestern noch vollkommen in Ordnung gewesen waren! Einen Pulli nach dem anderen nahm ich aus der Kommode und schaute sie an. Fünf meiner Pullis waren ruiniert! Ich rannte zum Schrank, um Hemden und Blusen zu prüfen und fand sie unbeschädigt.
Wer auch immer es getan hatte, er hatte nicht genug Zeit gehabt, um meinen ganzen Besitz zu ruinieren.
An diesem Dienstag morgen hatte ich keine Zeit fürs Frühstück. Zum Unterricht ging ich nur mit Rock und Bluse, ohne Pulli. Kein Mädchen zog zum Unterricht etwas über, weil Gedanken an Erkältung oder Frösteln verachtet wurden, obwohl die meisten von ihnen mit verschränkten Armen dasaßen und ab und zu
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