Schwarzer Engel
zitterten. Harte, puritanische Seelen regierten Winterhaven und achteten darauf, daß keine von uns mit zuviel Luxus in Berührung kam. Das Klassenzimmer war nicht wärmer als es die Berghütte im späten Oktober gewesen war. Den ganzen Morgen zitterte ich und dachte daran, mittags in mein Zimmer zu laufen und mir eine leichte Jacke zu holen.
Mein Mittagessen verschlang ich so schnell, daß es mich fast würgte, dann raste ich nach oben in mein Zimmer; die Tür war nie verschlossen. Ich rannte zum Schrank, um eine der drei warmen Jacken, die Tony mir ausgesucht hatte, von der Stange zu nehmen – zwei Jacken fehlten, und die letzte war triefend naß! Was hofften sie zu erreichen, indem sie mein Eigentum zerstörten? Zitternd vor Kälte und Wut lief ich auf den Flur, die nasse Jacke vor mich her haltend. Ich stürmte in das Badezimmer. Sechs Mädchen waren drinnen, rauchten und kicherten. In dem Moment, als ich eintrat, wurde es totenstill, während die Zigaretten weiterbrannten und einen schrecklichen Qualm erzeugten. Mit beiden Händen hielt ich die Wolljacke hoch. »Mußtet ihr sie in heißes Wasser werfen?«
fragte ich. »Reicht es nicht, daß ihr meine Pullis ruiniert habt?
Was für Ungeheuer seid ihr eigentlich?«
»Wovon redest du überhaupt?« fragte Pru Carraway mit ganz unschuldigen hellen Augen.
»Meine neuen Pullis sind aufgetrennt!« schrie ich. Ich schüttelte das Wasser aus der Jacke, so daß ihnen etwas davon ins Gesicht spritzte. »Ihr habt zwei von meinen Jacken genommen und die dritte kaputt gemacht! Glaubt ihr denn, ihr werdet dafür ungestraft wegkommen?« Ich starrte – hoffentlich erbost genug – in jedes Augenpaar, das mich anstarrte. Die bloße Tatsache, daß ich und meine kläglichen Drohungen ihnen keine Angst einjagten, machte mich noch wütender. Ihr Selbstvertrauen nahm zu, während ich zögerte und nicht wußte, wie ich sie besiegen sollte.
Ich drehte mich um und warf die tropfnasse Jacke in einen der beiden Wäscheschlucker. Eine sehr starke Feder verschloß krachend die schwere Eisentür. Bei zweihundert Mädchen, die täglich duschten oder badeten, wurden Hunderte von weißen Handtüchern gebraucht. Jeden Tag brachten die Zimmermädchen Stapel um Stapel von sauberen weißen Handtüchern herauf und legten sie ordentlich hinter die Glastüren der Wäscheschränke. Die Wäscheschlucker beförderten die nassen, verschmutzten Handtücher rasch in den Keller, wo sie in riesige Körbe fielen.
»So«, rief ich, drehte mich um und hoffte, ihnen damit angst zu machen. »Man wird diese Jacke finden und zur Direktorin bringen. Dieses Beweisstück könnt ihr mir nicht mehr nehmen, um es zu zerstören, denn der Keller ist für euch alle verboten!«
Pru Carraway gähnte. Die fünf anderen Mädchen taten es ihr nach.
»Hoffentlich werden sie jede einzelne von euch wegen vorsätzlicher Zerstörung von fremdem Eigentum rauswerfen!«
»Du klingst wie ein Rechtsanwalt«, beklagte sich Faith Morgantile. »Du machst uns angst, ehrlich. Was beweist schon eine nasse Jacke? Nichts außer deiner eigenen Sorglosigkeit, daß du dumm genug warst, sie in heißem Wasser zu waschen.«
Während ich noch im Badezimmer stand, stieg der Verdacht in mir auf, sie würden für ihre Tat nicht bestraft werden, egal, was ich behauptete. Dann mußte ich an Miss Marianne Deal denken. Ihre sanfte Stimme flüsterte mir ins Ohr: »Für einen Champion ist es besser, eine Sache, an die er glaubt, zu verlieren, als zu schweigen und nichts zu riskieren. Du weißt nie, welchen Effekt das später vielleicht hat.«
»Ich gehe auf der Stelle in Mrs. Mallorys Büro«, verkündete ich erbost. »Ich werde ihr die Löcher in meinen nagelneuen Pullis zeigen und auch von der Jacke erzählen.«
»Du kannst gar nichts beweisen«, meinte ein zierliches, farbloses Mädchen namens Amy Luckett und fuchtelte aufgebracht und verräterisch mit den Händen. »Du könntest es ja selbst gewesen sein!«
»Mrs. Mallory hat gesehen, daß ich die Jacke am Montag morgen noch anhatte, also wird wenigstens sie den damaligen Zustand kennen. Und wenn man dann die nasse Jacke im Handtuchkorb findet, wird das ein weiterer Beweis für eure Tat sein.«
»Du redest wie ein drittklassiger Anwalt daher«, lachte Pru Carraway höhnisch. »Die Schulleitung hier kann uns nichts anhaben. Wir gewinnen immer, wenn wir uns zusammentun und kämpfen. Unsere Eltern stehen hinter uns, unsere reichen, reichen Eltern. Sie sind einflußreich und mächtig. Du hast hier
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