Schwarzer Engel
von vor hundert Jahren, scheu, stolz und viel zu sensibel und verletzlich. Die Mädchen sehen, was ich auch sehe, was jeder hier sieht, und Sie verwirren sie. Sie machen sie unsicher bezüglich ihrer eigenen Identität und ihrer Werte. Außerdem sind Sie noch Tony Tattertons Mündel, eines bewunderten und erfolgreichen Mannes. Sie leben in einem der schönsten alten Herrenhäuser Amerikas. Ich weiß wohl, daß Sie eine Vergangenheit besitzen, die Sie verletzt hat, aber gestatten Sie ihr nicht, Sie auf Dauer zu verwunden. Sie haben die Begabung, alles zu erreichen, was Sie sich vornehmen. Lassen Sie sich nicht von albernen Schulmädchen das ruinieren, was die besten Lehrjahre Ihres Lebens sein können. Ihrem Gesichtsausdruck kann ich entnehmen, daß Sie jetzt empört sind und irgendeine Rache oder Entschädigung für den Verlust Ihrer Kleidung möchten. Aber ist denn Kleidung nicht relativ unwichtig für Sie? Wird sie denn nicht wieder ersetzt werden? Haben diese Mädchen etwas wirklich Wertvolles zerstört, das Sie vielleicht in Ihrem Zimmer versteckt haben?«
»Oh, oh, daran hatte ich gar nicht gedacht! Auf dem Boden meines Waschkorbes hatte ich eine schwere Schachtel mit den Porträts von Keith und Unserer-Jane in Silberrahmen versteckt! Ich muß sofort nachschauen, ob man sie weggenommen oder zerstört hat!« Ich war drauf und dran zu gehen, da drehte ich mich um und begegnete dem strengen, aber sympathischen Blick aus Mrs. Mallorys Augen. »Ich denke, Sie schulden mir etwas, Mrs. Mallory, dafür daß ich schweige – und den Frieden in der Schule nicht störe.«
Mrs. Mallorys Augen wurden wachsam. »Nun gut, sagen Sie mir, was ich Ihnen angeblich schuldig bin.«
»Diesen Donnerstag soll es zusammen mit den Jungs von Broadmire Hall einen Tanzabend geben. Ich weiß, ich habe während meiner Zeit hier noch nicht genug Auszeichnungen erhalten, um eine Einladung zu diesem Tanz zu verdienen, aber ich möchte trotzdem hingehen.«
Sehr lange Zeit starrte Mrs. Mallory mich mit halbgeschlossenen Augen an, dann lächelte sie amüsiert. »Nun, das ist eine bescheidene Bitte. Achten Sie nur darauf, daß Sie die Schule nicht blamieren.«
Ich wurde nie eine der Begehrten in Winterhaven, aber wenigstens akzeptierte mich die Mehrheit der Mädchen so, wie ich war, anders und auf eine scheue, unsichere Art unabhängig.
Unbewußt hatte ich meinen alten Schutzschild wiedergefunden, den ich schon in den Willies und in Winnerow verwendet hatte: Unbeteiligt – das war’s, wie ich erscheinen wollte. Sollten sie ruhig ihre Schlingen legen und Pfeile abschießen, was kümmerte es mich? Ich war hier, wo ich sein wollte, und das genügte.
Am Freitag abend, früher als erwartet, kamen Jillian und Tony aus Kalifornien zurück, voll Vorfreude auf die Feiertage.
Sie schenkten mir Kleidung und Schmuck, und das Bewußtsein, daß Troy, mein geheimer Freund, jedes Wochenende in seiner kleinen Hütte war, gab mir ein gutes Gefühl. Ich wußte, daß er mich nicht wirklich dort haben wollte, da ich ihn von seiner Arbeit ablenkte. Wenn er meinen Bedürfnissen gegenüber nicht so höflich und einfühlsam gewesen wäre, hätte er mich mit Sicherheit wieder fortgeschickt.
»Wie hast du dich denn vergangenen Samstag unterhalten?«
fragte Tony eines Tages, als er sah, wie ich mit einem Armvoll Bücher aus der Bibliothek eilte.
»Ich habe gelernt, das war alles«, antwortete ich mit einem kleinen Lachen. »Es gibt noch so viel, was ich schon zu wissen glaubte, aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn ihr nichts dagegen habt, du und Jillian, werde ich mich oben in meinem Schlafzimmer einschließen und herumkramen.«
Ich hörte, wie er schwer seufzte. »Jillian pflegt samstags ihre Haare richten zu lassen, dann geht sie mit ein paar Freunden ins Kino. Ich hatte gehofft, du und ich könnten heute in die Stadt gehen und ein paar Weihnachtseinkäufe machen.«
»Ach Tony, frag mich das noch mal, bitte, denn nichts auf der Welt würde ich lieber tun, als das Hauptgeschäft von Tatterton Toys zu besuchen.«
Einen Moment lang wirkte er verblüfft, dann breitete sich langsam ein Grinsen über sein angenehmes Gesicht aus. »Du meinst, du möchtest tatsächlich dorthin gehen? Wie wunderbar! Jillian hat nie einen Funken Interesse dafür gezeigt! Und deine Mutter, die wußte, daß wir uns diesbezüglich oft in die Haare bekamen, schlug sich auf die Seite ihrer Mutter und behauptete, sie wäre zu alt, um sich mit albernem Spielzeug zu langweilen.«
»Das hat
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