Schwarzer Engel
Anrufe kam er zurückgeflogen. Ich wußte, sie beauftragten Detektivagenturen, sie zu finden, aber Leigh war wie vom Erdboden verschwunden. Beide erwarteten, daß sie in Texas, wo ihre Großmutter und Tanten lebten, auftauchen würde, aber Leigh tauchte nie auf. Jillian weinte die ganze Zeit, jetzt weiß ich, daß ihr Tony Vorwürfe wegen des Verschwindens deiner Mutter machte. Ich wußte, daß Leigh gestorben war, lange bevor du mit deinen Neuigkeiten hierherkamst. Ich wußte es bereits an dem Tag, an dem es geschah, denn mir träumte davon; du hast nur noch die Wahrheit meines Traums bestätigt.
Meine Träume werden immer wahr.
Nachdem Leigh weggegangen war, erkrankte ich an rheumatischem Fieber und war fast zwei Jahre ans Bett gefesselt. Tony verlangte von Jillian, ihre gesellschaftlichen Aktivitäten aufzugeben und ihre ganze Zeit meiner Pflege zu widmen, obwohl ich ein englisches Kindermädchen namens Bertie hatte, das ich anbetete. Mir wäre es zehnmal lieber gewesen, wenn man mich mit Bertie alleingelassen hätte als mit Jillian. Jillian machte mir Angst mit ihren langen Fingernägeln und ihren raschen, unbedachten Bewegungen.
Ich spürte ihre Ungeduld mit einem kleinen Jungen, der einfach nicht gesund bleiben konnte.
›Keinen einzigen Tag meines Lebens bin ich krank gewesen‹, pflegte sie zu mir zu sagen. Das war der Beginn meiner fixen Idee, ich sei tatsächlich ein mißratenes, unpassendes Kind, das anderer Leute Leben verdarb. Und ab dann begannen die Träume. Manchmal waren sie wunderbar, aber viel öfter waren es grauenvolle Alpträume, die mich dazu brachten, zu glauben, ich würde nie wirklich glücklich sein, nie richtig gesund, und würde auch nichts von alldem je haben, was anderen so leicht zufliegt – normale Dinge, die jeder im Laufe seines Lebens erwartet: Freunde zu besitzen, sich zu verlieben und lange genug zu leben, um die eigenen Kinder heranwachsen zu sehen. Ich fing an, von meinem eigenen Tod zu träumen –
mein eigener Tod als junger Mann. Während ich älter wurde und mit der Schule anfing, zog ich mich von allen zurück, die sich mit mir anzufreunden versuchten. Ich hatte Angst davor, schließlich verletzt zu werden, wenn ich mich selbst zu verwundbar machte. Einsam und andersartig hörte ich meinen eigenen Trommler, lauschte meiner persönlichen Musik und widmete mich ganz meinem einsamen Kurs durchs Leben, bis es endlich vorbei wäre. Ich war überzeugt, es würde nicht allzu lange dauern. Ich wollte niemanden mit meinem Leid belasten, so daß es ihn verletzen könnte, wie ich von dem Bewußtsein verletzt wurde, daß das Schicksal gegen mich war.«
Unfähig länger zu schweigen, brauste ich auf: »Troy, ein Mann mit deiner Intelligenz kann doch nicht glauben, daß das Schicksal alles bestimmt!«
»Ich glaube an das, woran ich gezwungen wurde zu glauben.
Nichts, das in meinen Alpträumen vorhergesagt worden ist, ist nicht eingetreten.«
Kühl und feucht wehte der Sommerwind vom Meer her durch die geöffneten Fenster. Möwen und Tölpel schrien klagend, während die Wellen an die Küste klatschten. Mein Kopf lag an seiner Brust, und durch seine dünne Pyjama-Jacke konnte ich sein Herz klopfen hören. »Es waren doch nur Träume eines kleinen, kranken Jungen«, murmelte ich und wußte doch, während ich es noch aussprach, daß er schon viel zu lange an seinem Glauben festgehalten hatte, als daß ich es jetzt ändern könnte. Er schien mich gar nicht zu hören.
»Niemand hätte einen liebevolleren Bruder haben können als ich. Aber da war noch immer Jillian, die ihren Kummer um den Verlust ihrer Tochter dazu benutzte, um mir Tony mehr und mehr zu entfremden. Sie mußte auf Reisen gehen, um ihren Kummer zu vergessen. Sie mußte zum Einkaufen nach Paris, London und Rom, um den Erinnerungen an Leigh entfliehen zu können. Aus allen Teilen der Welt schickte mir Tony Postkarten und kleine Geschenke, um mich davon zu überzeugen, daß auch ich einmal, als Erwachsener, die Sahara sehen und auf die Pyramiden klettern würde. Die Schule war keine echte Herausforderung für mich. Die höheren Klassen erreichte ich viel zu früh, so daß sich die Freunde, die ich vielleicht hätte gewinnen können, von dem, was die Lehrer ein Wunderkind nannten, abwandten. Ich glitt durchs College, ohne auch nur jemals von irgendeinem akzeptiert worden zu sein. Ich war Jahre jünger und brachte die älteren Jungs in Verlegenheit. Die Mädchen neckten mich, weil ich noch ein Kind war. Immer stand ich
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