Schwarzer Engel
Versuch meinerseits, dir zu helfen, einen Weg zu finden, um dich selbst zu retten.«
Ich begriff nichts, aber dennoch wußte ich in diesem Moment, ich hatte geduldig zu sein und mußte ihm seine Chance geben, zu tun, was er für »richtig« hielt.
»Du besitzt einen Charakter und eine Energie, um die ich dich gleichermaßen bewundere und beneide. Du bist ein Überlebenskünstler, aber alles, was mir je zugestoßen ist, sagt mir, daß ich’s nicht bin. Zittere jetzt nicht. Das Leben formt unsere Ecken und Kanten während unserer Kindheit. Und ich weiß ganz genau, es wird sich zeigen, daß du und dein Bruder Tom aus härterem Material geschnitzt seid als ich.« Er drehte mich zu sich um und sah mit seinen tiefen und verzweifelten Augen zu mir herunter.
Ich biß mir auf die Zunge, um Fragen zu verhindern. Noch war es Sommer, der Herbst hatte noch nicht einmal die Bäume tief grün gefärbt. Ich bin hier, du wirst keine einsamen Nächte mehr verbringen müssen, wenn du nicht willst – aber ich sagte keine Silbe davon.
»Ich möchte dir von meiner Kindheit erzählen«, fuhr er fort.
»Meine Mutter starb kurz nach meinem ersten Geburtstag, und ehe ich zwei war, starb mein Vater. Deshalb ist der einzige Elternteil, an den ich mich in meinem Leben erinnern kann, mein Bruder Tony. Er war meine Welt, mein ein und alles. Ich betete ihn an. Für mich ging die Sonne unter, wenn Tony zur Tür hinausging, und sie ging auf, wenn er wieder hereinkam.
Ich hielt ihn für einen Gott, der imstande war, mir alles, was ich wollte, zu geben, ich mußte es nur eindringlich genug wünschen. Er war siebzehn Jahre älter und hatte schon vor meines Vaters Tod die Verantwortung dafür übernommen, daß ich glücklich blieb. Von allem Anfang an war ich ein kränkliches Kind. Tony hat mir erzählt, meine Mutter hatte es sehr schwer, mich zur Welt zu bringen. Immer war ich kurz davor, wegen irgend etwas zu sterben, und das hat Tony so oft in Angst und Schrecken versetzt, daß er mitten in der Nacht in mein Zimmer kam, um nachzusehen, ob ich überhaupt noch atmete. Während meiner Klinikaufenthalte kam er drei bis viermal täglich zu Besuch und brachte mir Leckereien, Tiere, Spiele und Bücher. Als ich dann drei Jahre alt war, glaubte ich, jede Sekunde seines Lebens gehöre mir. Er war mein Eigentum. Wir brauchten sonst niemanden. Und dann kam der fürchterliche Tag, an dem er Jillian VanVoreen fand. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung von ihr, er hielt sie völlig geheim vor mir. Als er mir schließlich erzählte, er würde Jillian heiraten, drehte er es so, daß es aussah, als ob er’s nur täte, damit ich eine neue, liebevolle Mutter bekäme. Und eine Schwester dazu. Ich war aufgeregt und zornig zugleich. Mit drei Jahren kann ein Kind die einzige Person in seinem Leben, die sich um es kümmert, als persönliches Eigentum betrachten.
Ich war eifersüchtig. Lachend hat er mir später erzählt, daß ich regelrechte Wutanfälle produzierte, denn ich wollte nicht, daß Tony Jillian heiratete – besonders nicht, nachdem sie mir begegnet war. Ich lag krank im Bett, und er dachte, ein so zerbrechlicher, liebenswürdiger kleiner Junge, der sie wirklich brauchte, würde Jillian rühren. Er sah nicht, was ich sah.
Kinder scheinen die Gedanken von Erwachsenen besonders gut lesen zu können. Ich wußte, sie war über die Vorstellung, sich um mich kümmern zu sollen, entsetzt… und trotzdem brachte sie ihre Scheidung hinter sich, heiratete Tony und zog mit ihrer zwölfjährigen Tochter in Farthy ein. Ganz schwach kann ich mich an die Hochzeit erinnern, keine Einzelheiten, nur Eindrücke.
Ich war unglücklich, und deine Mutter ebenso. Ich habe andere Erinnerungen, wie Leigh versuchte, mir eine Schwester zu sein, einen Großteil ihrer Freizeit an meinem Bett verbrachte und versuchte, mich bei Laune zu halten. Wie dem auch sei, was sich mir am tiefsten eingeprägt hat, war, daß Jillian ganz offensichtlich gegen jeden Moment war, den Tony mir widmete und nicht ihr.«
Eine ganze Stunde sprach er und mir wurde alles klar: Die Einsamkeit eines kleinen Jungen und eines jungen Mädchens, die von Umständen, die außer ihrer Kontrolle lagen, zusammengeworfen worden waren. So hatten sie allmählich einander immer mehr gebraucht, und dann passierte eines Tages etwas Furchtbares, das er nie verstand. Die neue Schwester, die er langsam geliebt hatte, lief fort.
»Tony war in Europa, als Leigh von hier fortrannte. Als Antwort auf Jillians verzweifelte
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