Schwarzer Kuss Der Nacht
sich vollkommen echt anfühlte, riss sie herum und schubste sie. »Lauf!«
Mehr Ermunterung brauchte sie nicht. Wenn sie schnell genug, weit genug wegrannte, entkam sie diesem Alptraum vielleicht.
Sie lief um die Biegung, die andere Frau dicht auf ihren Fersen. Weiter vorn gab es eine öffentliche Toilette. Mais Double zog sie hinter das kleine Gebäude, wo sie beide kurz Atem holten.
»Geht es dir gut?«, fragte ihr Double und musterte Mai, als suchte es nach Verletzungen.
Antworte nicht!
, ermahnte Mai sich.
Gib dieser Halluzination nicht nach!
Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder von gepolsterten Zellen und Zwangsjacken auf, und ihr wurde schwindlig. Sie musste ein wenig geschwankt haben, denn ihr Double ergriff ihre Oberarme und sah sie besorgt an. »Verdammt, Mai, antworte mir! Bist du verletzt?«
»Nein, mir geht es gut«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Wahrscheinlich bin ich verrückt, aber unverletzt.«
Der Druck auf ihren Armen ließ nach, als ihr Double sich wieder gegen die Mauer lehnte. »Sprich leise!«, flüsterte die andere. »Und du bist nicht verrückt.«
»Nicht?«, zischte Mai zurück. »Hör mir doch zu! Ich eröffne dem Selbstgespräch eine völlig neue Dimension. Ich denke, das qualifiziert mich sehr wohl als verrückt. Wenigstens werden meine Visionen besser. Die Kugeln wirkten fast echt.«
Mais Double verzog das Gesicht. »Die Kugeln
waren
echt. Und deshalb müssen wir weg.«
Die Schatten in jenen Parkbereichen, wo die Laternen nicht hinleuchteten, waren pechschwarz und Angst einflößend. Überall konnte sich jemand verstecken. Folglich wollte Mai am liebsten nicht hinter dem schützenden Haus hervor- und ins Freie treten. »Ich bleibe hier, danke«, flüsterte sie.
»Nein, hier können wir nicht bleiben.«
»Ich fasse nicht, dass ich mit mir selbst streite!«
»Still!«, warnte ihr Double sie abermals und legte einen Finger auf Mais Lippen. »Du streitest nicht mit dir selbst, sondern mit mir.«
Mai sah die Frau fragend an. »Und wer zum Teufel bist du?«, flüsterte sie gegen den Finger.
»Nick.«
»Nick?
Mein
Nick?« Die Worte kamen ganz automatisch, und Mai bemerkte, wie die Frau ein klein wenig lächelte.
»Ja.
Dein
Nick.«
Die Betonung von
dein
ignorierte Mai geflissentlich. »Beweise es!«
»Mai, dafür haben wir keine Zeit!«
Mai verschränkte ihre Arme vor der Brust und starrte ihr Double weiter an, das leise fluchte.
»Na schön. Mein Name ist Nick Blackhawk. Ich war heute Abend zum Essen bei dir, einem Essen übrigens, das du mir eigentlich kochen wolltest. Stattdessen habe ich bei Anthony’s bestellt und mir einen beträchtlichen Teil meiner Portion auf mein Hemd geschüttet.«
»Das hätte jeder wissen können.« Nun war es an dem Double, fragend eine Braue hochzuziehen, und Mai kapitulierte. »Okay, schon gut. Du bist Nick. Und wieso siehst du aus wie ich? Wie ist das überhaupt möglich? Und woher hastdu die Sachen?« Das T-Shirt und die Jeans, die er trug, kamen ihr verdächtig bekannt vor. Die Schuhe allerdings waren eindeutig seine.
»Ich habe sie aus deinem Bad geklaut, bevor ich weg bin. Und was die Frage betrifft, weshalb ich wie du aussehe, das erkläre ich später«, versprach sie – er.
Dieser Mist…
»Das war mein Lieblingsoutfit«, jammerte sie.
»Ich kaufe dir etwas Neues, okay? Aber können wir zuerst wieder zu dir zurück – nachdem ich mich umgesehen habe?«
Nick schloss seine – ihre – Augen und wurde ganz still. Die Luft um ihn herum flirrte wie gestaute Sommerhitze über einem Gehweg. Mai hatte das schon einmal gesehen, in Jennas Wohnung, als Nicks Geist seinen Körper verließ. Falls Mai noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, dass er es war, verflogen sie jetzt endgültig.
Eine Minute verging, dann noch eine. Mai blickte sich nervös um. Wie lange brauchte er denn, um die Gegend zu überprüfen?
»Oh!«, hauchte sie erschrocken, sobald ihr Double die Augen wieder aufschlug. »Du bist zurück. Und?«
»Die Luft ist rein. Gehen wir!«
Mai blickte in die Richtung des Obelisken. »Was ist mit Lenny? Sollen wir nicht einen Notarztwagen rufen?«
»Die können ihm nicht mehr helfen.« Er packte Mais Hand, doch sie riss sich von ihm los und rührte sich nicht. »Willst du dich nicht … du weißt schon«, begann sie und zeigte auf ihn, »dich wieder in dich verwandeln?«
»Kann ich nicht. Ich bin größer als du, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Wenn ich mich hier verwandle, platzen die Sachen aus allen
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