Schwarzer Kuss Der Nacht
Nähten, und ich bin nackt. Oder vielmehr, dubist nackt.« Er holte hörbar Atem. »Auf jeden Fall würden wir reichlich Aufmerksamkeit erregen. Und ich verschwende keine Energie, eine andere Gestalt anzunehmen, bloß weil dich die hier stört.« Als er sich von der Mauer abstemmte, sah Mai zwei hässliche rote Flecken auf den Steinen hinter ihm.
»Oh, mein Gott! Du bist verwundet!« Mai hielt ihn fest, um sich seinen Rücken anzusehen, der natürlich wie ihr eigener aussah. Das T-Shirt hatte zwei kleine Löcher und war blutgetränkt. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Das ist halb so wild.«
Glücklicherweise folgte ihnen niemand, und gleich außerhalb des Parks bekamen sie ein Taxi. Der Fahrer guckte sie nur einmal kurz an, zuckte gleichgültig mit den Schultern und ignorierte sie fortan, während Mai Nick auf die Rückbank half.
Die Fahrt über schwiegen sie, so dass es Mai wie eine Ewigkeit vorkam, bis sie endlich vor ihrem Haus anhielten.
»Wir sind da«, sagte sie zu Nick, der die Augen öffnete und sich von ihr beim Aussteigen helfen ließ. Er war furchtbar blass, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren. Und Mai schaffte es gewiss nicht, ihn allein nach oben in ihre Wohnung zu schleppen.
Vor dem Gebäude, Nicks Arm stützend, nahm sie sich eine Sekunde, um ihre Augen zu schließen. Könnte ihre Magie doch dieses eine Mal funktionieren …
Langsam ging sie die einzelnen Schritte durch, genau wie damals, als sie gelernt hatte, wie sie ihre Magie benutzte. Sie suchte ihre Mitte und konzentrierte sich. Zuerst spürte sie das Kribbeln an ihrem Kopf, wie Wind, der ihr durchs Haar wehte. Danach kamen die Waldgerüche, die sie erinnerten, dass sie ein Waldwesen war, egal, wo sie lebte. Ein Kraftstrom durchfuhr ihre Arme und Beine, baute sich auf undbrach über sie herein, während sie Nick und sich in ihr Wohnzimmer vierzehn Stockwerke höher wünschte.
Vorsichtig linste sie nach vorn, aber da war immer noch die Eingangstür des Hauses. Und sie war so sicher gewesen, dass es klappen würde! Dass sie sich nicht wieder wie eine elende Versagerin fühlen musste.
Sie spürte, dass Nick sie ansah, und blickte zu ihm. Er wirkte sehr besorgt.
»Alles okay?«, erkundigte er sich.
»Ja«, murmelte sie, tippte rasch den Code ein und öffnete die Tür.
Der Weg zum Fahrstuhl erschien ihr außergewöhnlich lang, und als sie den Aufzugknopf drückte, betete sie, dass der Lift kommen mochte, bevor sie jemanden trafen – insbesondere bevor sie Will begegneten.
Bisher hatten sie Glück gehabt, doch die Strähne drohte jäh abzureißen, als sie Wills unverkennbares schräges Pfeifen aus dem Treppenhaus hörte. Keine drei Sekunden ehe die Feuerschutztür aufging, war der Fahrstuhl da.
Mai bugsierte Nick eilig hinein und hieb auf den Knopf mit der Vierzehn.
Geh schon zu, Tür!
»Mai?«
Die Türen glitten zu, als Will nach ihr rief, und Mai konzentrierte sich darauf, sie zu beschleunigen. Erst als die Kabine sich in Bewegung setzte, atmete sie wieder.
Oben mussten sie allerdings noch den langen Flur bis zu ihrer Wohnung bewältigen. »Halte durch, Nick!«
»Ja, alles bestens«, entgegnete er, obwohl ihr nicht entging, wie schmerzverzerrt seine Stimme klang.
Vor ihrer Wohnungstür lehnte sie ihn an die Wand, solange sie in ihrer Tasche nach den Schlüsseln kramte. Bald hatte sie aufgeschlossen und half Nick hinein.
»Wir müssen uns sofort um die Wunden kümmern«, erklärte sie und brachte ihn direkt ins Bad. »Und du solltest deine Sachen ausziehen.«
Er nickte, verzog jedoch das Gesicht, als er nach dem T-Shirt-Saum griff. »Lass mich dir helfen!«, sagte sie, holte eine Schere aus der Badezimmerschublade und schnitt das T-Shirt auf. Behutsam zog sie den Stoff von seiner Haut.
Es war verstörend, sich selbst so blass und mit blutenden Schusswunden zu sehen, zumal sie das durchaus hätte sein können, wäre Nick nicht vor ihr im Park gewesen. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie kaum lebend wieder dort weggekommen wäre. Ja, sie könnte in diesem Moment tot neben Lenny liegen. Dieser Gedanke traf sie wie ein Fausthieb, und die Angst, die sie zuvor gar nicht empfunden hatte, weil sie vom Schock wie betäubt war, holte sie jetzt ein.
Lenny war tot. Und Nick hatte sein Leben riskiert, um sie zu retten. Ihretwegen, um ihrer Story willen.
»Ich vermute, wir müssen zur Polizei gehen«, bemerkte sie, wenngleich sie hin- und hergerissen war. Zwar wäre es das Richtige, doch wenn sie hingingen, würde die
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